Musikfreizeit in der Schweiz:Kondensiertes Glück

Musikfreizeit in der Schweiz: Die Villa Jolimont in der Nähe des Lac de Neuchâtel.

Die Villa Jolimont in der Nähe des Lac de Neuchâtel.

(Foto: Andre Lange)

Jedes Jahr begleitet unser Autor seine Kinder auf eine Musikfreizeit in einer Schweizer Villa. Nach zehn Tagen stellt er fest: Genau so sollte Schule eigentlich sein.

Von Alex Rühle

Allein schon der Ort. Ein Hügel in der Nähe des Lac de Neuchâtel. Man steigt durch dichten Wald auf. Oben liegen Felder und eine Obstbaumallee. Dahinter noch mal Laubwald, uralte, hohe Bäume. Dann weitet sich plötzlich der Blick, als würde ein Vorhang aufgehen: eine Lichtung - und in der Mitte steht dieses wunderschöne Landhaus. Die Villa Jolimont. Große Fenster, geschwungenes Dach, alles wirkt leicht, licht und einladend. Daneben eine Brennerei aus dem 15. Jahrhundert, umgebaut zu einem Schlaflager. Ziehbrunnen, ein Teich und auf der Wiese eine Feuerstelle, an der ab mittags meist ein Lagerfeuer brennt, so ein prasselndes, mit Scheiterhaufenhölzern.

Jeder, der hier das erste Mal hochkommt, murmelt ähnliche Assoziationen: Zauberberg. Magisch. Märchenort. Die Schweizer Autorin und Regisseurin Katja Früh, die 1964 als elfjährige Schülerin hier war, schrieb 40 Jahre später: "Ohne Jolimont wäre nichts. Oder alles anders. Auf unschöne Weise anders, jedenfalls in meinem Leben. Zwei halbe Sommer-Jahre, konzentrierte Kinderzeit. Jedes einzelne Gesicht, jedes Lachen, jeder Geruch. Alle anderen Schulen vom Winde verweht, alles flüchtig und längst vergessen. Heute noch, wenn ich Romane lese, in denen alte Villen vorkommen, ob sie in Cornwall oder Aix-en-Provence spielen: Niemals stelle ich sie mir anders vor als die Villa Jolimont."

Warum sie das schrieb, warum sie einst hier Schülerin war, warum der Ort hier kondensiertes Glück bedeutet, dazu später. Jetzt erst mal alle mitkommen in den Salon, es ist kurz nach elf, große Probe. Achter Tag, übermorgen ist Aufführung. Wir stecken tief im "Fluch der Karibik". Wir, das sind 26 Kinder und Jugendliche. Dazu einige erwachsene Begleiter, die klanglich mit anschieben. Und Peter Bachmann am Dirigentenpult, ein großartiger Cellist, der immer so freundlich lächelt, als würde er inwendig leuchten. Er kann mit diesem freundlichen Lächeln nachts derart lustigschaurige Gruselgeschichten erzählen, dass man auch als Erwachsener erschrickt, wenn ihm plötzlich Himbeersaftblut aus den Mundwinkeln rinnt. Aber jetzt ist Tag. Und tagsüber ist Bachmann Cellist, Komponist, Arrangeur. Was bedeutet, dass er jedem Kind für diese Freizeit eine seinem Können gemäße Stimme auf den Leib schreibt: Nicolas spielt seit zehn Monaten Cello und kann erst die vierte Lage? Kriegt er eben eine Stimme bis zur vierten Lage.

Das Gute an Filmmusiken: Jeder kennt sie. Außerdem läuft das Zeug einmalig cremig ins Ohr und hat gleichzeitig einen irren Drive. Tschaikowsky im Muscle-Shirt, symphonisch raffinierter Pop in Cinemascope. Letztes Jahr war das eine "Harry-Potter"-Suite, diesmal ist es eben ein Medley aus den "Pirates"-Filmen. Na ja, wenn alles laufen würde, hätte es diesen Drive. Hier sitzen aber ja weder Profis noch Aspiranten auf den ersten Platz bei "Jugend musiziert", sondern ganz normale Kinder, die nebenher gerne Musik machen. Gestern haben alle, nach tagelangen Kleingruppenproben, das erste Mal gemeinsam gespielt. Da klang das eher wie Freibeuter des Starnberger Sees als wie Piraten der Karibik.

"Wow, war das geil"

Ist auch vertrackt, dauernd wechselt ein Dreier- mit einem Viererrhythmus ab, oft schiebt sich das sogar übereinander, die einen spielen dann triolisch, während die anderen in Halben denken müssen. Am Ende gibt es eine lange Crescendo-Passage, musikalisch ändert sich da kaum etwas, spannend kann das nur klingen, wenn alle anfangs leise spielen, geduckt, lauernd und das über 40 Takte steigern. Gestern ging dieser Schluss in einem Ozean aus Lärm und falschen Noten unter.

Diesmal ist das anders. Alle 26 Instrumente ducken sich gleichzeitig weg. Pianissimo. Als würde die Melodie sich von hinten anschleichen. Von unten pumpen die Celli, drüber die Geigen, gehetzt, ich kriege während des Begleitens am Klavier eine Gänsehaut: Plötzlich ist eine Spannung im Raum, als würden die Zügel gleich reißen. Dann schießt das los, mit einer irren Kraft, die nur drauf gelauert hat, losrennen zu dürfen, der Klang faltet sich immer weiter auf, eine großartige Fläche aus harmonischem Lärm. Und Schluss! - - "Wow, war das geil", johlt einer der Jungs in die anschließende perplexe Stille.

Von draußen ruft jemand durchs offene Fenster "Nudeln fertig!", alle stürzen raus auf die Veranda. Gut so. Kann man beim Essen bisschen was erklären.

In Jolimont dehnt sich die Zeit

Wir sind hier auf einer Musikfreizeit, wobei, Moment, da vorne, die Frau in der zeltartig ausgebeulten Wohnjacke, das ist Christine Klankermayer, eine Münchner Theaterpädagogin mit niederbayrischem Humorhintergrund. Korrekt muss es heißen: Musik- und Theaterfreizeit. Weil die Kinder den halben Tag Musik machen und den halben Tag Theater: Sommernachtstraum, vier Gruppen, die jeweils Shakespeare-Szenen nach Jolimont verlegen.

Dann machen sie noch einen halben Tag Lagerfeuer, spielen Tischtennis, gehen Bunkererkunden im Wald, machen Fackelwanderungen, organisieren zwischendurch Tanzstunden, weil Tobias, einer der älteren Jungs, wahnsinnig gut tanzen kann, sitzen gemeinsam sommernachtsverträumt unter den Sternen, einige verlieben sich vielleicht sogar ganz zart, aber das geht nun wirklich niemanden was an.

Wer jetzt sagt, drei halbe Tage würden leider nicht in 24 Stunden reinpassen, der war noch nie hier. Das geht sehr wohl, in Jolimont dehnt sich nämlich die Zeit. Oder wie es die elfjährige Sophie formuliert: "Das ist deshalb so herrlich, weil man irre viel macht. Und am Abend ist man schön erschöpft. Nicht so lätschert müde wie in der Schule, sondern - so ganz erfüllt."

Musikfreizeit in der Schweiz: Am Ende kommen alls zusammen und spielen gemeinsam die Filmmusik aus "Fluch der Karibik".

Am Ende kommen alls zusammen und spielen gemeinsam die Filmmusik aus "Fluch der Karibik".

(Foto: Andre Lange)

Wer hingegen sagt, Orchester, Theater, uncooler Scheiß, der soll das ruhig sagen. Er soll aber auch einfach zu Hause bleiben. O-Ton Nicolas: "Das Beste an Jolimont ist, dass man nie cool sein muss. Dass alle einfach so sind, wie sie sind. Und weil sie sind, wie sie sind, sind sie alle so cool."

Apropos uncool: Das nach gängigem Maßstab wohl Alleruncoolste, aber in Wahrheit fast schon surreal Großartigste hier oben: Es gibt jedes Mal einen Walzerabend, für den der riesige Kostümfundus im ersten Stock der Villa geöffnet wird, was bedeutet, dass an jenem Abend 13-jährige Herren im Smoking 15-jährige mondän spektakuläre Seidentaftgräfinnen auffordern. In der Schule, wo der unsichtbare Dämon Cool sie alle stramm am Wickel hat, wäre das undenkbar. Hier oben wird bis Mitternacht quer durch die Altersstufen gewalzt.

Und wer sind nun die, die hier einfach so sind, wie sie sind? 26 Kinder und Jugendliche. Der Jüngste ist zehn, die Ältesten sind 16 Jahre alt. Dazu kommen zehn oder elf "Begleiter" mit. Alle unentgeltlich. Zum Kochen. Für die Musik. Als so stabile wie unsichtbare Hintergrundstrahlung. Die meisten dieser Begleiter sind selbst gerade mal Anfang 20. Sie zahlen sozusagen ihr eigenes Glück zurück. Fränzi hat Musik studiert und ist heute Ärztin. Lara studiert Fagott, Aude Violine, Martina Bratsche, Lucie Theater- und Johannes Filmregie. Sie alle waren in ihrer Jugend hier oben. Und sie reden ganz ähnlich wie Katja Früh in ihrem anfangs zitierten Text: Das hier war das Glück. Die Wochen in Jolimont strahlen bis heute in mein Leben.

Aude sagt, sie habe jedes Mal "dramatisch rumgeheult", wenn sie danach wieder zu Hause in ihrem Zimmer saß. Lucie nickt, "ja klar, Post-Jolimont-Depression. Gehört dazu, wenn es so schön ist".

Bei der Aufführung kommen heimlich die Tränen

Ich höre den beiden stumm zu und bin erleichtert: Ein paar Mal dachte ich im letzten Jahr bei meinen Kindern, jetzt stellt euch nicht so an mit eurer Orchester-Nostalgie. Als am 7. Januar die Schule nach den Winterferien wieder anfing, war Grabesstimmung am Frühstückstisch. Plötzlich stand Sophie auf, verschwand in ihrem Zimmer und kam mit einem Blatt Papier wieder. Das befestigte sie am Kühlschrank. Darauf stand: "Noch 80 Tage bis Breitenberg". Sie hatte durchgezählt bis zum Anfang der Osterferien - da organisieren Peter Bachmann und seine Frau, die Geigerin Angelica Bachmann, im niederbayrischen Breitenberg eine Art Klein-Jolimont. Kürzer, aber ähnlich schön und intensiv. Sophie hat von Januar bis Ende März jeden Tag einen Strich gemacht.

Vom Schicksal erhört

Wir Erwachsenen sitzen an diesem Mittag am Rand des weitläufigen Grundstücks, hinter einer Gartenhütte. Ein Ehepaar hat sich dazugesetzt: Regine und David Tillmann. Den beiden ist das Ganze hier im Grunde zu verdanken. Weil David Tillmann vor 70 Jahren als Schüler in der Schule gelitten hat. Ja, er fand die Schule dermaßen schrecklich, dass er sich heimlich eine schwere Krankheit wünschte. Eine, an der man gerade so nicht stirbt, aber schlimm genug, dass man erst mal ein Jahr nicht mehr in die Schule muss. Das Schicksal hat ihn erhört: Er wurde so schwer krank, dass er eineinhalb Jahre im Sanatorium in Davos verbringen musste. Das war dann die schönste Zeit seiner Jugend: Natur beobachten. Musik machen. Lesen.

Später wurde ausgerechnet dieser Mann Lehrer. Was ein Glücksfall für all seine Schüler war. Weil sich David Tillmann so gut an die eigenen Qualen erinnerte. Er träumte als Lehrer davon, eine andere Schule zu gründen. Eine Schule ohne Zwang und Versagensängste. Eine Schule fürs Leben. Wir reden hier von den frühen Sechzigerjahren. Es gab noch wenige Waldorf- oder Montessorischulen. Außerdem war Tilmann musikbegeistert und machte mit einigen Kindern regelmäßig Sommermusikfreizeiten. Mal in einem Lagerhaus, meist in stillgelegten Hotels.

Als die Familie, der die damals leer stehende Villa Jolimont gehört, davon Wind bekam, luden sie David Tillmann ein, dieses Haus zu mieten. Der setzte dann hier seinen Traum von der Ermöglichungspädagogik um: eine Schule für Kinder, denen das Lernen schwerfällt. Die aus der Schule zu fallen drohen, weil sie keine Lust mehr haben, Lernblockaden, Lebenskummer. Ein halbes Jahr hier oben im Naturinternat, dann das kalte Halbjahr in Zürich, in Tillmanns Wohnung. Über diese Sommerschule schrieb Katja Früh ihren Dankestext: "Alle anderen Schulen vom Winde verweht", aber diese beiden Jahre. . . Weil Schule hier oben hieß: das Leben erfahren. Kartoffeln ernten. Hütten bauen. Ach, du bist schlecht in Mathe? Dann geh doch gleich mal für uns alle einkaufen und schau, wie viel Wechselgeld übrig bleibt.

Seit 1994 wurde die Schule umgewandelt in einen musikalischen Kulturbetrieb und lebt als kleines Familienunternehmen weiter, das sich ganz auf Musiklager für Kinder, Jugendliche und Erwachsene konzentriert. All diese Kurse atmen den pädagogischen Geist der Jolimont-Schule: Probier dich aus, spiele andere Rollen. Finde und höre deinen eigenen Ton, dann kannst du auch besser auf die anderen hören.

Unsichtbare Muskeln am Rückgrat

So haben diese Wochen was von Stabhochsprung: Alleine zu Hause fiedeln die Kinder so rum, in Jolimont wird das über die zehn Tage eingeschmolzen zu leuchtender Musik. Als würden Fenster aufgestoßen auf eine weite Landschaft: Schaut, so klingt das in echt. Der Unterschied ist, wie wenn man im Alltag im Vorbeigehen Kirchenfenster immer nur von außen anschaut: Da wirken sie grau und stumpf, und man versteht nicht, was da darauf zu sehen sein soll. Dann sieht man sie plötzlich von innen, die Sonne scheint hindurch, und alles strahlt in Irrsinnsfarben.

Das mit dem Stabhochsprung gilt aber nicht nur für die Musik. Die zehn Tage Jolimont wirken auch im Alltag weiter. Die Kinder werden selbständiger, ihnen wachsen unsichtbare Muskeln am Rückgrat.

Am Ende löst sich alles, wie immer bei edlem Zauber, in sich selbst auf: eine vierstündige Theater- und Musikaufführung für die angereisten Eltern, bei der allen Zuhörern, das ist Jolimontsches Naturgesetz, heimlich die Tränen kommen, dann viele Umarmungen und eine völlig übermüdete Heimfahrt. Auf dass sich alle im nächsten Jahr wiedersehen. Ist ja schon in 303 Tagen. Gleich mal die Strichliste machen.

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