Mobbing in der Schule:"Grundschüler sind wie Raubtiere"

Die tägliche Hölle: Der Psychologe Gerd Arentewicz über Mobbing-Methoden unter Schülern und die Hilflosigkeit der Erwachsenen.

Maria Holzmüller

Wenn Schule zur Hölle wird: Einzelne Schüler werden immer wieder verprügelt, im Internet tauchen Gerüchte über sie auf, daneben peinliche Fotos und böse Filmchen. Mobbing an Schulen ist ein weitverbreitetes Problem - öffentlich gemacht wird es nur selten. Der Psychologe Gerd Arentewicz spricht über die Mobbing-Methoden unter Schülern, die Hilflosigkeit der Lehrer und die Handlungsmöglichkeiten der Eltern.

Mobbing in der Schule: Hochrechnungen gehen davon aus, dass jeder sechste Schüler in Deutschland gemobbt wird.

Hochrechnungen gehen davon aus, dass jeder sechste Schüler in Deutschland gemobbt wird.

(Foto: Foto: dpa)

sueddeutsche.de: Das Thema Mobbing in der Schule flackert in unregelmäßigen Abständen in den Medien auf - und verschwindet dann auch wieder. Wie hat sich die Zahl der Fälle in den vergangenen Jahren entwickelt?

Gerd Arentewicz: Leider gibt es keine verlässlichen Zahlen. Gemeldet werden jährlich etwa 90.000 Prügeleien, die so schwer waren, dass die Schüler danach ärztlich behandelt werden mussten. Hochrechnungen gehen davon aus, dass jeder sechste Schüler, also etwa 1,5 Millionen Kinder, von Mobbing betroffen ist. Gemeldet werden diese Fälle nur selten, weil die Schule Angst um ihren Ruf hat. Meist wird versucht, die Probleme intern zu lösen.

sueddeutsche.de: Stimmt es, dass Mobbing vor allem in Grundschulen auftritt?

Arentewicz: Ja, die Impulsivität der Grundschüler ist größer als die älterer Jugendlicher. Wenn Sie beobachten, wie die Kinder zur großen Pause aus den Klassenzimmer stürmen: Das ist, als würden Raubtiere aufeinander losgelassen.

sueddeutsche.de: Welche Formen nimmt Mobbing in der Schule an?

Arentewicz: In Grund- und Hauptschulen äußert sich Mobbing vor allem in gezielter körperlicher Gewalt gegen einzelne Schüler. An Realschulen und Gymnasien werden die Methoden dann subtiler. Die Schüler dort wissen, dass ihnen aggressives Verhalten gegenüber Mitschülern schaden würde. Sie verlagern ihre Mobbingpraktiken deshalb vermehrt ins Internet. Dort können sie einen Mitschüler schädigen, ohne Aufmerksamkeit auf sich selbst zu lenken.

sueddeutsche.de: Wie muss man sich Cyber-Mobbing vorstellen?

Arentewicz: Es spielt sich vor allem in sozialen Netzwerken wie SchülerVZ, Myspace oder Facebook ab. Inzwischen hat jeder zweite Schüler ab zehn Jahren einen eigenen Rechner im Zimmer stehen. Es herrscht geradezu ein Zwang, solchen Netzwerken beizutreten. Wer das nicht tut, ist ausgegrenzt. Anders als auf dem Schulhof haben die Täter im Internet die ganze Welt als Publikum. Diskriminierende Kommentare sind schnell geschrieben und bösartige Handy-Filmchen aus der Umkleidekabine oder sogar der Schultoilette sind schnell hochgeladen.

sueddeutsche.de: Welche Form von Mobbing ist für die Opfer schlimmer?

Arentewicz: Wird ein Schüler auf dem Schulhof zusammengeschlagen und muss danach medizinisch behandelt werden, sind die Folgen von Mobbing offensichtlich. Die Attacken im Internet sind subtiler, sie schädigen vor allem auf psychischer Ebene. Diese Art von Psychoterror ist für die Opfer auf lange Sicht schlimmer, vor allem weil die diskriminierenden Fotos und Texte sich im Netz unkontrolliert ausbreiten und noch nach Jahren zu finden sind.

Jeder kann betroffen sein.

sueddeutsche.de: Gibt es typische Mobbing-Opfer?

Mobbing in der Schule: PD Dr. Gerd Arentewicz ist in der medizinischen Psychologie und Psychotherapie an den Universitäten Hamburg, Kiel und Lübeck tätig. Er forscht seit Jahren zu Konflikten am Arbeitsplatz und in der Schule. Zuletzt veröffentlichte er zusammen mit Alfred Fleissner und Dieter Struck das Buch "Mobbing. Psychoterror am Arbeitsplatz, in der Schule und im Internet - Tipps und Hilfsangebote", erschienen im Ellert&Richter Verlag.

PD Dr. Gerd Arentewicz ist in der medizinischen Psychologie und Psychotherapie an den Universitäten Hamburg, Kiel und Lübeck tätig. Er forscht seit Jahren zu Konflikten am Arbeitsplatz und in der Schule. Zuletzt veröffentlichte er zusammen mit Alfred Fleissner und Dieter Struck das Buch "Mobbing. Psychoterror am Arbeitsplatz, in der Schule und im Internet - Tipps und Hilfsangebote", erschienen im Ellert&Richter Verlag.

(Foto: Foto: oH)

Arentewicz: Jeder kann betroffen sein. Das Risiko erhöht sich allerdings, wenn ein Schüler auf irgendeine Art und Weise auffällt, sei es negativ oder positiv. Kinder, die ein wackeliges Selbstbewusstsein haben, suchen sich oft noch schwächere Schüler, die sie niedermachen können um sich selbst aufzuwerten. Besonders gute Schüler wiederum sind eine ständige Provokation für die schlechteren. Die wollen sie deshalb kleinkriegen, egal mit welchen Mitteln. Auch Auffälligkeiten im Aussehen, eine Behinderung, Migrationshintergrund - in Klassen mit hohem Ausländeranteil auch die deutsche Herkunft - können Mobbing provozieren.

sueddeutsche.de: Wie können sich betroffene Schüler wehren?

Arentewicz: Sie haben nur eine Wahl. Sie müssen sich an einen Erwachsenen wenden, am besten die Eltern oder den Lehrer. Viele Schüler schämen sich allerdings und behalten ihre Probleme für sich. Die Fälle, die publik werden, sind deshalb nur die Spitze des Eisbergs.

sueddeutsche.de: Können Eltern ihren Kindern irgendwie helfen?

Arentewicz: Eltern und Lehrer müssen achtsamer werden und verdächtige Symptome wahrnehmen. Wenn Montag zum Bauchweh-Tag wird, die Kinder regelmäßig ihr Sportzeug für den Sport- oder Schwimmunterricht zu Hause vergessen, sich zurückziehen oder blaue Flecken haben, für die es keine Erklärung gibt, sollten Eltern nachhaken. Im Extremfall sollten sie nicht zögern, ihr Kind aus der Klasse zu nehmen. Das Problem mit Cyber-Mobbing ist, dass Eltern oft gar nicht wissen, wo und wie ihre Kinder sich im Internet bewegen.

sueddeutsche.de: Gibt es überhaupt Möglichkeiten, gegen Mobbing im Netz vorzugehen?

Arentewicz: Juristische Maßnahmen sind schwierig, meist steht am Ende Aussage gegen Aussage. Aber Eltern sollten die Anbieter der betreffenden Seiten umgehend informieren und sie sollten den Fall auch im sozialen Umfeld der Schule bekannt machen.

sueddeutsche.de: Ein Thema, das oft vernachlässigt wird, ist das Mobbing gegen Lehrer. Besonders junge Frauen sind davon häufig betroffen. Wieso kommen diese Fälle fast nie an die Öffentlichkeit?

Arentewicz: Die wenigsten Opfer melden sich, die Scham ist groß, die Frauen wollen nicht den Eindruck erwecken, sie hätten ihre Klassen nicht im Griff. Publik werden solche Fälle nur indirekt, dann wenn Lehrerinnen plötzlich aus gesundheitlichen Gründen aus der Schule ausscheiden. Häufig geschieht das an Schulen mit hohem Ausländeranteil. Gerade dort werden junge Frauen nicht als Autoritätspersonen akzeptiert. Mancherorts ist man bereits dazu übergegangen, junge Lehrerinnen nicht mehr an bestimmte Schulen zu schicken.

sueddeutsche.de: Wie kann man langfristig gegen Mobbing an Schulen vorgehen?

Arentewicz: Auf lange Sicht hilft nur Aufklärung. Jede Schule sollte ein eigenes Leitbild veröffentlichen, das einen eigenen Anti-Mobbing-Paragraphen enthält. Darin sollten Eltern und Schüler aufgefordert werden, jede verdächtige Beobachtung zu melden. Es muss eine Öffentlichkeit für das Thema geschaffen werden. Erst wenn der öffentliche Druck groß genug ist, werden auch die Schulen aktiv, um ihren Ruf zu retten.

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