Marina Weisband:"Erlernte Hilflosigkeit"

Die frühere Piraten-Politikerin Marina Weisband fordert mehr Macht für Schüler und lanciert dazu eine Digital-Plattform. Teilhabe kann beginnen mit so einfachen Dingen wie: Klopapier.

Interview von Philipp Nowotny

SZ: Frau Weisband, gibt es zu wenig Demokratie in deutschen Schulen?

Marina Weisband: Ich glaube, ja. Im Moment ist es doch teilweise noch so, dass volljährige Schüler in der Oberstufe fragen müssen, ob sie aufs Klo gehen dürfen. Andererseits erwarten wir von ihnen, dass sie unsere politischen Repräsentanten wählen. Das ist irgendwie ein großer Sprung.

Mehr Teilhabe von Schülern in der Schulstruktur, warum brauchen wir das?

Damit aus Schülern aktive Mitglieder unserer Gesellschaft werden. Damit sie keinen Trennspalt erfahren zwischen "denen da oben" und "uns hier unten". Das ist der Nährboden für Wut und rechtes Gedankengut. Wir sehen gerade, wie sich dieses Denken in Deutschland lauffeuerartig ausbreitet. Die Debatte um Flüchtlinge hat meiner Meinung nach sehr viel mit dem Erleben eigener Passivität zu tun.

. . . zumindest über die Klassensprecher können sich Schüler doch einbringen.

Klar. Aber die Klassensprecher füllen an vielen Schulen keine wirkliche Aufgabe aus. Wenn es um wichtige Entscheidungen geht, haben sie null Mitsprache. Und sogar, wo das nicht so ist: Der Klassensprecher ist nur einer von 30 Schülern.

Welche Entscheidungen würden Schüler gerne selbst treffen?

Wenn man in einer Regelschule ganz ins Blaue fragt, was würdet ihr verändern, um die totale Utopie zu schaffen, dann kommt oft: mehr Klopapier auf den Toiletten. Oder: Wo ist Fußballspielen erlaubt? Das sind meist Komfort-Fragen. Ein großes Thema sind die Handyverbote, die gerade an vielen Schulen diskutiert werden.

Also eher bodenständige Wünsche . . .

Denkt man an Utopie, erscheinen diese Ideen tatsächlich wenig ambitioniert. Man könnte ja darüber diskutieren, ob Hausaufgaben nachmittags gemeinsam erledigt werden sollen, ob sich die Schule für Flüchtlinge einsetzen soll oder ob man experimentelle Unterrichtsmethoden ausprobieren will.

Sie wirken ein wenig desillusioniert.

Wir kennen das Phänomen auch von Erwachsenen. Das ist erlernte Hilflosigkeit. Wer ein System gewohnt ist, in dem er keine Entscheidungen treffen kann, dem fällt es schwer, sich Dinge auszudenken, wenn er plötzlich diese Entscheidungskompetenz bekommt . .

Abiturienten protestieren

Wenn etwas im Argen liegt, kann es schon mal zu Protesten kommen: Schülerdemo in NRW 2013 gegen zu komplizierte Prüfungsaufgaben im Mathe-Abitur.

(Foto: Federico Gambarini/dpa)

. . . . weil er gar nicht weiß, was möglich ist.

Genau. Ich habe selbst Schule als einen Ort erlebt, an den man morgens hingeht und auf Anweisungen wartet. Schüler sollen aber Erwachsene werden, die sagen: Wenn ich einen Tisch bauen möchte, dann soll der so und so aussehen. Dazu brauche ich Holz, Nägel und einen Hammer. Und wenn wir vier Leute sind mit unterschiedlichen Vorstellungen von einem perfekten Tisch, dann müssen wir uns darüber unterhalten und eine Entscheidung finden.

Im nächsten Schuljahr startet an Pilotschulen Ihr Projekt "Aula". Dabei können Schüler wichtige Entscheidungen über eine Onlineplattform treffen.

Der Grundgedanke ist: Mach deine Gesellschaft, gestalte deine Umgebung, sei nicht bloß Konsument! Jeder Schüler kann bei "Aula" Ideen online stellen. Dort werden sie debattiert und weiterverbessert. Wer eine Wand streichen will, muss sich überlegen, wo er das Geld für die Farbe auftreibt. Wenn der Direktor grünes Licht gibt, wird darüber abgestimmt.

Das letzte Wort hat also immer noch die Schulleitung?

Ja. Die Schulen in Deutschland sind immer noch so autoritär, dass ich ihnen ein Vetorecht einräumen muss. "Aula" ist noch nicht die Lösung, aber ein kleiner Schritt.

Das Projekt basiert auf dem Prinzip der "liquid democrazy". Warum sollten Schüler ihre Stimme an andere delegieren?

Gerade Schüler haben viel um die Ohren. Nach und nach verwandelt sich Schule in ein krasses Boot-Camp für die Wirtschaft. Da kann ich die Schüler nicht zwingen, sich permanent zu beteiligen. Ich mische repräsentative Demokratie mit einer Prise Basisdemokratie: Du kannst deine Stimme meinetwegen die ganze Zeit delegieren. Aber irgendwann taucht eine Frage auf, die dich brennend interessiert und bei der du dich gut auskennst. Das ist dann der magische Moment, in dem das Gefühl erwacht: Ich kann auch was tun!

Jugendliche sind ohnehin zu viel online, heißt es oft. Befördern Sie das nicht?

Tatsächlich nein. Der Hauptteil des Projekts findet ja offline statt: Ideen finden, ausarbeiten und bewerben. Die digitale Struktur hilft, Zeit zu sparen. Jeder kann jederzeit Ideen einspielen. Jeder kann verfolgen, in welcher Phase Projekte stehen, wer was macht und wofür wer abstimmt.

An Gymnasien funktioniert das vielleicht. Aber auf der Gesamtschule?

Interessanterweise bewerben sich bei uns vor allem sogenannte Problemschulen an sozialen Brennpunkten. Die Lehrer sagen uns, sie würden ihren Jugendlichen gerne das Gefühl vermitteln, Einfluss zu haben. Eben genau, um Frust, Aggressionen oder Rassismus abzubauen.

Eigene Teilhabe wäre also auch ein Schlüssel zu einer besseren Integration?

Absolut. Ich bin ja selber Flüchtling. Mit sechs Jahren bin ich als Kontingentflüchtling aus der Ukraine gekommen. Ich weiß, wie es ist, in eine völlig neue Welt zu tauchen. Es war ein unglaublich wichtiges Gefühl, dass meine Meinung gezählt hat. Das verändert völlig die Einstellung zu dem Land, in das man immigriert.

Und digitale Strukturen können dabei die Hürden senken?

Das ist ein ganz wichtiger Aspekt. Wir wissen, dass Leute, die Sprache und Kultur nicht gut kennen, sich immer leichter über das Digitale verständigen. Das liegt einerseits an den automatischen Übersetzungsmöglichkeiten. Andererseits können sie nachdenken, sich mit Argumenten wappnen und sich zum Formulieren Zeit nehmen.

Es gibt in Deutschland wenige vergleichbare Projekte. Woran liegt das?

Das Problem ist die Projektierung. Das heißt, dass bestimmte Ideen ein bis drei Jahre unterstützt werden, dann ist aber auch wieder gut. Man hat dann wieder was, um sich zu schmücken. Ein großes Problem ist die föderale Struktur: Ich muss 16 Schulgesetze studieren und mit 16 Landesschulämtern kämpfen.

Was sagt das über das Bildungsverständnis in Deutschland aus?

Ich weiß, dass viele Lehrer und Eltern, wenn sie dieses Interview gelesen haben, aufspringen und sagen werden: "Was? Bei uns ist das aber ganz anders!" Insgesamt ist das deutsche Schulsystem aber ein extrem träger Apparat. Politiker reden oft davon, Bildung sei das Allerwichtigste. In Wirklichkeit hat Bildung eine der letzten Prioritäten. Das liegt vor allem daran, dass sich Investitionen in diesem Bereich meist nicht innerhalb einer Legislaturperiode auszahlen, sondern statistisch gesehen erst nach 20 Jahren.

Das Projekt "Aula" ist eine Onlineplattform, auf der Schüler Ideen einstellen, diskutieren und abstimmen können. Dadurch sollen sie in einem relativ geschützten Raum eigene Regeln formulieren und an ihrer Schule mitgestalten. Bedingung ist ein freiwilliger Vertrag zwischen Schülern, Lehrern, Schulleitung und Eltern. "Aula" ist zunächst auf ein Jahr begrenzt, die Software ist kostenlos und wird frei verfügbar sein. Marina Weisband leitet das Projekt für den Verein Politik-digital, unterstützt durch die Bundeszentrale für politische Bildung. Bis Ende Februar können sich Schulen für eine Teilnahme anmelden.

www.aula.de

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