Literaturklassiker für Förderschüler:"Und ich lese gerade Schiller!"

Jugendliche mit Lernbehinderung oder Verhaltensstörungen brauchen oft besondere Lehrmaterialien - egal ob sie Förderschulen besuchen oder reguläre Klassen. Es gebe für diese Zielgruppe zu wenig passende Angebote, sagt die Autorin Meike Hahnraths. Sie sieht nicht ein, warum anspruchsvolle Werke Kindern mit Behinderung vorenthalten werden sollten. Hahnraths hat deshalb das Projekt "Literaturklassiker für Förderschüler" initiiert.

Interview von Dorothea Grass

SZ: Sie haben "Wilhelm Tell" neu aufbereitet: als Buch für Lehrer und Schüler von Förderschulen. Wie kamen Sie dazu?

Meike Hahnraths: Ich habe zwei Töchter, eine Tochter ist behindert. Schon in den ersten Schuljahren ist mir aufgefallen, dass sich die Lehrer in der Förderschule Lehrmaterial oft selbst zusammensuchen mussten. Es gibt für diese Zielgruppe einfach zu wenig gutes Material. Im Verlauf der Jahre habe ich beschlossen, selbst etwas zu machen.

Was hat Sie motiviert?

Meine Vision war diese: eine Familienfeier. Eine Schülerin aus der Oberstufe erzählt den anderen Familienangehörigen stolz, dass sie im Deutschleistungskurs gerade Dürrenmatt liest. Ihr behinderter Cousin sagt daraufhin: "Und ich lese gerade Schiller!" Ich möchte, dass es zur Selbstverständlichkeit wird, dass auch anspruchsvolle Inhalte für diese Schülergruppe zur Verfügung stehen.

Zur Person

Die Pädagogin und Autorin Meike Hahnraths ist Initiatorin des Schulbuchprojekts "Literaturklassiker für Förderschüler". Sie will damit nicht nur den Jugendlichen neue Zugänge ermöglichen, sondern vor allem auch Lehrern helfen.

Sie haben einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn, richtig?

Ja. Das, was die klassischen Autoren zu erzählen haben, ist kein Wissen, das nur Gymnasiasten vorbehalten sein sollte. Wenn man nicht gerade die anspruchsvollsten Werke wählt, ist klassische Literatur auf jeden Fall auch interessant für Menschen, die länger brauchen, um Inhalte zu erfassen. Die Gedanken der klassischen Dichter und Denker haben auch heute noch Aussagekraft, auch für Menschen, die nicht so leicht lernen wie andere.

Warum haben Sie sich für "Wilhelm Tell" entschieden?

Ich hatte ursprünglich "Die Räuber" ausgesucht. Doch Axel Gellhaus, der Literaturprofessor, den ich mit ins Boot geholt hatte, überzeugte uns vom "Tell". Es steckt so viel darin: vor allem die Themen Freiheit und Ungerechtigkeit. Auch eine kleine Liebesgeschichte, Abenteuer und Drama. All das ist nach wie vor aktuell. Und für Förderschüler bieten sie einen Alltagsbezug.

Was brauchen Förderschüler ganz besonders?

Engagierte und gute Lehrer, die wissen, wie sie ihren Schülern einen Zugang zum jeweiligen Thema bieten. Förderschüler haben oft Probleme mit abstraktem Denken, sie können sich nicht einfach etwas anlesen oder selbständig erarbeiten. Die Lehrer müssen die unterschiedlichen Bedürfnisse ihrer Schüler genau kennen und jedem einzelnen gerecht werden. Das ist der Grund, warum wir uns so viele unterschiedliche Arbeitsmaterialien überlegt haben.

Ich entdecke Literaturklassiker

"Ich entdecke Literaturklassiker: Wilhelm Tell", Hahnraths Verlag, Illustration Henriette Kröger

(Foto: Hahnraths Verlag)

. . . das fällt tatsächlich auf. Neben Bastelanleitungen für Burgen oder Kreuzworträtseln finden sich sogar Ausmalbilder.

Ich weiß, das erscheint erst einmal ungewöhnlich. Aber Förderschulklassen sind nun mal heterogen. Es gibt hier auch Schüler, die nicht lesen oder schreiben können, manchmal noch nicht mal sprechen. Sie brauchen Aufgaben, die sie erfüllen können. Hinterher können sie stolz auf das sein, was sie geleistet haben. Beim Ausmalen eines Bildes etwa kommt ein Schüler zur Ruhe. Gleichzeitig versteht er den Inhalt des Bildes. Wir haben auch mittelalterliche Spiele und Kochrezepte in den Lernmaterialien. Sogar die Anleitung zum Bau eines japanischen Papiertheaters, eines "Kamishibai", ist darunter. Damit können die Schüler Szenen des Werkes nachspielen. Wir möchten ihnen eine Vielzahl an fächerübergreifenden Zugängen zu "Wilhelm Tell" anbieten. Sie sollen seine Welt erleben können.

Wird Ihr "Tell" schon in Schulen genutzt?

Das Material wird im neuen Schuljahr eingesetzt - es ist ja erst seit ein paar Wochen auf dem Markt. Die Resonanz von offiziellen Stellen und den Sonderschulpädagogen ist bislang positiv.

Inwiefern genau?

Sie schätzen die Vielfältigkeit, mit der wir das Werk aufbereitet haben. Auch die praktischen Dinge kommen gut an: die große Schriftgröße, die nummerierten Zeilen und das Papier, das blendfrei ist und sich gut umblättern lässt. Außerdem haben wir darauf geachtet, dass die Schüler sich in dem Buch gut orientieren können. Auch Humor findet sich in manchen Aufgaben. Lernen darf ja Spaß machen.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: