Leistungsdruck an der Schule:Fatale Gier nach guten Noten

Abitur

Die Notenhysterie findet zum Abitur ihren Höhepunkt, denn die Abschlussnote entscheidet maßgeblich über die Aufnahme an der Uni.

(Foto: dpa)

Für jede Eins gibt es fünf Euro, für schlechte Noten wird ein Kinobesuch gestrichen: Dass wir in einer Leistungsgesellschaft leben, lassen wir schon siebenjährige Kinder spüren. Das ist beschämend. Aus der traditionellen Notenvergabe ist ein nationales Notentrauma geworden - Zensuren gehören abgeschafft.

Ein Gastbeitrag von Arne Ulbricht

Erst jüngst hat Richard David Precht gefordert, "Ziffernnoten" abzuschaffen. Das Totschlagargument, das sich Precht anhören musste, lautete: "Was will der denn, der ist doch gar kein Lehrer." Nun, ich bin Lehrer, und ich hielt solche Forderungen lange Zeit für abwegig.

Warum benotet wird, erschien mir logisch: Noten sind eine Einheit, um Leistungen zu messen; Noten motivieren und eignen sich dazu, Druck auszuüben; Noten ermöglichen es, Leistungsstände zu vergleichen und gegebenenfalls zu leistungsschwache Schüler "auszusortieren". Vor allem die (Zeugnis-)Noten in der Sekundarstufe II, die gemeinsam mit den Noten der Abiturklausuren und der mündlichen Prüfung die Grundlage für die Errechnung der Abitur-Durchschnittsnote bilden, hatten für mich geradezu wegweisende Bedeutung.

Die Angst vor einem Numerus clausus bei der Studienplatzvergabe führt dazu, dass in der Oberstufe zum Teil um jeden Punkt gefeilscht, oft sogar gestritten wird. Dies schadet, niemanden wird es wundern, dem Lernklima an den Schulen. Universitäten sollten diese Ängste daher nicht schüren, sondern für die Zulassung ausschließlich die individuellen Fähigkeiten prüfen, die selbst dann hervorragend sein können, wenn man die Abiturklausur in Mathe vergeigt hat. (An Kunsthochschulen ist dies zum Beispiel üblich.)

Für jede Eins fünf Euro

Ganz generell sollten Schüler weder Angst vor Noten haben, noch sollten sie bereits während des Lernprozesses daran denken, welcher Aufwand für welche Note erforderlich ist. Das Problem ist: Die fatale Gier nach guten Noten zieht sich durch das ganze Schülerleben. Eltern, die ihren Kindern in der Grundschule für jede Eins fünf Euro schenken und für schlechte Noten einen Kinobesuch streichen, sind daran nicht unschuldig. Später merken sie gar nicht, dass aus ihren neugierigen Kindern Kämpfer für hervorragende Noten (und nicht für allgemeinbildendes Wissen) geworden sind.

Abgesehen davon üben Eltern einen Druck aus, der nicht selten in Prüfungsängste mündet. Dass wir in einer Leistungsgesellschaft leben, lassen wir beschämenderweise schon siebenjährige Kinder spüren, und je häufiger die Begriffe "Leistung" und "Druck" wo auch immer fallen, desto schlimmer wird es.

Längst ist aus der traditionellen Notenvergabe ein nationales Notentrauma geworden. Um am Ende des Schuljahres eine Note im Detail begründen zu können und sich so gegen klagewütige Eltern oder gegen uneinsichtige Schüler zu wappnen, wird inzwischen fast alles benotet. Auch deshalb sehe ich in den Noten längst eine Gefahr. Sowohl für die Schüler, die bei jeder Leistung an die Note denken, als auch für die Lehrer: konkret die Gefahr, Unterricht so zu planen, dass es jede Unterrichtsstunde ermöglicht, Notenmaterial, also irgendetwas Messbares, zu erhalten.

Technische Innovationen treiben den Notenvergabewahnsinn ins Groteske

Die technischen Innovationen haben die Notenvergabe keineswegs gerechter, geschweige denn besser gemacht. Sie haben ihren Beitrag geleistet, den Notenvergabewahnsinn ins Groteske zu treiben. Momentan wehre ich mich noch. Zum Beispiel besitze ich noch kein "Lehrertool". Ich gehöre also noch nicht zu den Lehrern, die in ihr Handy nach dem Unterricht für jeden Schüler eine Note eintragen, aus denen automatisch eine Gesamtnote errechnet wird. Auf Teachertool.de kann man nachlesen, was so eine Software alles kann, zum Beispiel: "Zu jeder Kategorie wird der aktuelle Noten-Mittelwert berechnet und sowohl als gerundeter Wert als auch als Dezimalnote angezeigt."

Das führt dazu, dass Laura am Ende des Halbjahres in jedem Fach um die zwanzig unterschiedlich gewichtete Noten erhalten hat. Für jede einzelne Unterrichtsstunde. Für zwei Gruppenarbeiten. Für das Powerpoint-Referat. Und für die Klassenarbeiten sowieso. Und dann kommt sie auf die Note 2,43, Gesamtnote Zwei. Während Carina, die in der Gruppenarbeit aktiver war und von der Laura die Hausaufgaben immer abschreibt, eine 2,52, also eine Drei, bekommt. Mit Verlaub: Schüler sind keine Wesen, die sich am Ende eines Schuljahres aus 256 Teilnoten in zehn verschiedenen Fächern zusammensetzen, die dann auf- beziehungsweise abgerundet das Zeugnis ergeben.

Denn problematisch ist und bleibt, dass Noten oft nicht gerecht sein können. Kann jemand wirklich beurteilen, dass eine mündliche Leistung mit einer Drei minus zu bewerten ist? Kann man ausschließen, dass Johannes, der sich nur ein einziges Mal gemeldet und den man nicht drangenommen hat, nicht etwas Geniales hatte sagen wollen? Und dann bekommt er am Ende der Stunde eine Fünf, weil er sich nur ein einziges Mal gemeldet hat? Und Paul, der nach dem Unterricht aus dem Stegreif ein Protokoll schreiben könnte, der aber einfach still ist, bekommt für seine aktive Nichtbeteiligung eine Sechs, obwohl seine passive Beteiligung konzentrierter war als die Leistung der hyperaktiven Vielmelder? Ist es gerecht, einem etwas pummeligen Schüler, der sich im Sportunterricht anstrengt, eine Vier zu geben, während ein anderer Schüler aus dem Stand weiter springt als er? Was ist eigentlich Leistung?

Mir ist das Lachen längst vergangen

Schule sollte ein Lebensraum sein, in dem sich Schüler wohlfühlen. Schulen, die das Prinzip Leistungs- und Selektionsgesellschaft nicht eins zu eins auf den Schulbetrieb übertragen haben, werden oft für ihre Naivität ausgelacht. Mir ist das Lachen längst vergangen. Die Pflicht, Noten zu vergeben, verdirbt mir zunehmend die Lust an diesem wunderbaren Beruf.

Ich unterrichte unter anderem Französisch und bin es leid, unter Tests die Note Sechs zu schreiben. Ich bin es auch leid, fleißigen Schülern eine Eins zu geben. Den etwas weniger begabten Schülern würde ich lieber eine Nebenrolle in einem Theaterstück geben, während die begabten Schüler schwierigere Rollen bekämen. Die Schüler, die das Stück gemeinsam aufführen, hätten ihren Talenten und Möglichkeiten entsprechend Französisch gelernt. Wenn es ideal läuft, dann haben sogar alle Spaß gehabt.

Die Notenzeugnisse könnten durch Jahresabschlussberichte ersetzt werden, in denen auch die Stärken nicht zu kurz kommen, und am Ende der Schullaufbahn könnten die Schüler ein Zeugnis erhalten, auf dem steht, wie lange sie zur Schule gegangen und worin sie wie viele Schuljahre lang unterrichtet worden sind. Langfristig würde den Schülern bewusst werden, dass dieses Zeugnis sie nur dann im Leben weiterbringt, wenn hinter diesen Angaben nicht nur Luft steckt.

In Wahrheit träumt jeder Lehrer davon, dass Schüler nicht für Noten lernen. Sondern weil sie einen Sinn darin sehen, etwas zu lernen. Also sollten die Lehrer ihre Lehrertools entsorgen und stattdessen testweise eine notenfreie Woche einführen. Die Schüler werden mit Begeisterung am Unterricht teilnehmen. Garantiert!

Arne Ulbricht, 41, ist Lehrer in einem Berufskolleg bei Wuppertal; die Übernahme ins Beamtenverhältnis hat er abgelehnt. Über seine Erfahrungen hat er das Buch: "Lehrer: Traumberuf oder Horrorjob?" geschrieben.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: