Legasthenie und Dyskalkulie:Wie Kinder unter Lernstörungen leiden

Bildungspaket mit Startproblemen

Zählen mit Fingern auch in höherem Alter kann Hinweis für Rechenschwäche sein - muss es aber nicht. Auch ist nicht jeder Lesemuffel Legastheniker.

(Foto: dpa)
  • Laut Schätzungen sind gut fünf Prozent aller Schüler von Legasthenie betroffen, etwa ein Prozent von der Rechenschwäche Dyskalkulie.
  • Eine neue Studie befasst sich damit, inwiefern von einer Lernstörung betroffene Kinder unter weiteren Belastungen wie Mobbing leiden.
  • Ein Experte sagt: "Bisher geht man in Diagnostik und Therapie zu wenig auf die emotionale Situation von Kindern mit Lernstörungen ein."

Von Johann Osel und Matthias Kohlmaier

Das Gefühl des Versagens, Abschotten, Selbstzweifel, extreme Schüchternheit oder auch Hyperaktivität, die Angst vor der Schule bis hin zum dauerhaften Schwänzen; aber auch Kopfschmerzen, Bauchweh oder Einnässen ohne körperliche Ursache. Es ist eine Liste an Symptomen und Erscheinungen, unter denen Kinder mit Lernstörungen leiden können.

Dass eine Rechtschreib- oder eine Rechenschwäche (Legasthenie oder Dyskalkulie) mit psychosozialen Belastungen einhergeht, ist wissenschaftlich belegt. Nun hat eine Analyse der Duden-Institute für Lerntherapie konkrete Erfahrungen aus der Beratungsarbeit ausgewertet und unter diesem praxisorientierten Ansatz Daten vorgelegt. Ergebnis: Fast 70 Prozent der betroffenen Schüler berichteten von mindestens einer Form der Belastung, auch mehrere Auffälligkeiten sind üblich. Bei jedem Fünften treten körperliche Symptome auf.

Diese Prozentsätze, schreiben die Autoren, seien "nicht nur für sich genommen erschreckend hoch", sondern auch höher als in bisherigen Studien mit anderen Stichproben. Ausgewertet wurden Unterlagen zu 201 Diagnosegesprächen mit Schülern der Klassen eins bis zwölf. Die noch unveröffentlichte Studie liegt der Süddeutschen Zeitung vor. Duden-Institute sind einer der bekanntesten Anbieter auf einem breiten Therapiemarkt für Lernstörungen, die Kosten für solche Stunden werden unter Umständen von Jugendämtern getragen.

Jugendliche sind stärker belastet als jüngere Kinder

Gut fünf Prozent aller Schüler sind von Legasthenie betroffen, so die Schätzungen, und etwa ein Prozent von Dyskalkulie. Manche Forscher taxieren aber den Anteil der von Rechenschwäche Betroffenen höher. Und der Bundesverband Legasthenie und Dyskalkulie geht davon aus, dass bis zu acht Prozent der Schüler eine isolierte Lesestörung haben, ohne dass dies Rechtschreibung gravierend beeinflusst.

Laut Diagnose-Auswertung der Duden-Therapeuten zeigt sich, dass Kinder mit Rechenschwäche noch häufiger von weiteren Symptomen betroffen sind als Legastheniker. Als möglichen Grund nennen die Experten, dass der Nachteilsausgleich beim Rechnen in den meisten Bundesländern restriktiver ist als im Fall des Schreibens. Legastheniker können im Fall von Diagnosen beispielsweise eine längere Arbeitszeit bei Prüfungen beantragen. "Sollte sich dieser Verdacht erhärten, wäre eine Angleichung schulrechtlicher Regelungen dringend zu empfehlen, um rechenschwache Kinder zu entlasten", heißt es. Weiterer Erklärungsansatz könne sein, dass schlechte Leistungen in Mathe vom Umfeld eher als intellektuelle Einschränkungen abgetan werden als Defizite beim Lesen und Schreiben - weil Legasthenie öffentlich ein deutlich bekannteres Phänomen sei als Dyskalkulie.

Ohnehin das Umfeld, es hat Wirkung: Jugendliche sind insgesamt viel stärker belastet als jüngere Kinder. Vor allem der Rückzug aus der Gemeinschaft und Angst vor der Schule bis hin zu Depressionen nimmt bei Schülern der Mittel- und Oberstufe offenbar zu. Und während bei Mädchen öfter die soziale Abschottung sowie körperliche Beschwerden beobachtet wurden, schlägt bei Jungen die Belastung auch nach außen um - in ADHS, das Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätssyndrom.

"Ich habe damals in der Klasse einfach nie dazugehört"

Wie einsam das Aufwachsen mit einer Lernstörung sein kann, weiß Sonja Borowski. Die 23-jährige Legasthenikerin bestätigt aus den Erfahrungen ihrer Schulzeit das Gros der Ergebnisse der Studie. "Es gab Zeiten, wo ich morgens überhaupt nicht mehr zur Schule gehen wollte. Ich hatte Ausschlag am ganzen Körper - dieser psychische Stress." Als sie in der Grundschule bei Diktaten gar nicht mehr mitkam, sei sie vom Lehrer währenddessen in ein anderes Zimmer geschickt worden. "Ich habe damals in der Klasse einfach nie dazugehört", sagt sie. Der Hautausschlag und ständige Versagensängste seien die Folge gewesen. Nach der Pubertät konnte sie dann besser mit der Störung umgehen. Dank Lerntherapie hat sie den Realschulabschluss und später Fachabitur gemacht; heute studiert sie Soziale Arbeit.

An Hochschulen ist das Thema übrigens ein ganz spezielles: Jeder zweihundertste Student ist nach Schätzungen Legastheniker. Doch viele Unis nehmen das Problem nicht wahr oder wissen gar nicht, dass auch sie etwa einen Nachteilsausgleich anbieten können. Um Betroffenen zu helfen und generell aufzuklären, engagiert sich Borowski im Bundesverband Legasthenie und Dyskalkulie.

"Bisher geht man in Diagnostik und Therapie zu wenig auf die emotionale Situation von Kindern mit Lernstörungen ein", sagt Legasthenie-Spezialist Gerd Schulte-Körne von der Münchner Uni-Klinik. Man könne wegen der kleinen Stichprobe der Studie und methodischer Schwächen zwar keine generelle Aussage über junge Legastheniker und Dyskalkuliker machen; die Ergebnisse stimmten aber prinzipiell mit dem überein, was "mir in der täglichen Arbeit mit legasthenen Kindern begegnet". Dem Zusammenhang von Lernstörungen und anderen Symptomen solle in weiteren Studien nachgegangen werden, fordern auch die Duden-Experten. Die Daten entstammten eben einem Praxiskontext.

Mehr Aufklärung - wie sie sich Sonja Borowski vornimmt - hält auch Schulte-Körne für essenziell. "Die Förderung der Kinder mit Lernstörungen ist nicht nur eine pädagogische Herausforderung. Auch emotionale und psychische Belastungen müssen in die Behandlung integriert werden." Das Vorurteil, Legastheniker seien dumm, halte sich leider noch immer.

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