Legasthenie im Studium:"Ich denke bis heute manchmal: Ich bin dumm"

'Bildungsmüll' in Frankfurt

Buchstaben und Bildung - das hängt nach allgemeiner Ansicht klar zusammen.

(Foto: Boris Roessler/dpa)
  • Fast jeder 200. Student in Deutschland ist Legastheniker. Doch oft wissen weder Betroffene noch Universitäten, wie sie mit der Behinderung umgehen sollen.
  • Den Legasthenikern steht per Gesetz ein Nachteilsausgleich zu. Wie der jedoch in der Praxis aussieht, das ist schwer zu ermitteln.
  • "Der Nachteilsausgleich soll Chancengleichheit herstellen, den Legasthenikern aber natürlich keinen Vorteil gegenüber Kommilitonen verschaffen", sagt ein Experte.

Von Matthias Kohlmaier

Sie ist sehr fröhlich. Nicht aufgesetzt, angenehm fröhlich. Lacht viel, spricht dabei fast ohne Punkt und Komma, aber druckreif, eloquent im Ausdruck. Und doch sagt Anne Lax, wenn man mit ihr über ihre Behinderung spricht, auch Dinge wie: "Ich denke bis heute manchmal: Ich bin dumm. Wie soll nur etwas aus mir werden?" Das Problem ist: Niemand kann ihre Beeinträchtigung sehen, sondern nur deren Folgen. Anne Lax, 25, die in Wahrheit anders heißt, hat eine Lese-Rechtschreibstörung, sie ist Legasthenikerin. Dennoch studiert sie erfolgreich, in Tübingen macht sie ihren Master im Fach "Demokratie und Regieren in Europa".

"Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden", so steht es im Grundgesetz, Artikel 3, Satz 3. Und Legasthenie hat, auch wenn sich das Gerücht hartnäckig hält, nichts mit Dummheit zu tun. Sie ist eine dauerhafte und genetisch bedingte Behinderung. Legastheniker haben Schwierigkeiten bei der Wahrnehmung und Verarbeitung von Sprache, dies schlägt sich besonders beim Schreiben und Lesen nieder. Der Bundesverband Legasthenie und Dyskalkulie (BVL) und auch unabhängige Fachleute gehen davon aus, dass ungefähr vier Prozent der Schüler in Deutschland betroffen sind. Laut Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerks ist fast jeder 200. Student Legastheniker.

Kein einheitlicher Nachteilsausgleich

Wie allerdings mit Legasthenie im Studium umzugehen ist, das wissen in vielen Fällen weder die Universitäten noch die Betroffenen selbst. Den studierenden Legasthenikern steht ein Nachteilsausgleich zu, zum Beispiel ein Zeitaufschlag bei Klausuren oder das Recht, Prüfungen auf einem Laptop statt handschriftlich zu absolvieren. Wie die Hochschulen jedoch damit verfahren, das obliegt allein ihnen selbst. "Es gibt leider keine Einheitlichkeit beim Nachteilsausgleich für Legastheniker an den Unis", sagt Sandra Ohlenforst, Leiterin der Informationsstelle für Studierende mit Behinderung an der Uni Würzburg.

Das kann Anne Lax nur bestätigen. Vor ihrem Masterstudium in Tübingen hat sie zwei Universitäten in Nordrhein-Westfalen besucht. An der ersten bekam sie drei Semester lang regelmäßig wegen ihrer Rechtschreibung schlechte Noten - bis sie zufällig darauf aufmerksam wurde, dass ihr rechtlich ein Nachteilsausgleich zusteht. Im Prüfungsamt gestand man ihr auf Nachfrage dann eine Schreibzeit-Verlängerung von 15 Minuten zu, zudem wurden ihre Rechtschreibfehler nicht mehr in die Bewertung einbezogen.

Auf die angenehme Erfahrung folgte später eine weniger gute, im Masterstudium an der zweiten Uni. "Die Dame im Prüfungsamt fragte quasi, warum ich als Legasthenikerin denn überhaupt studieren wolle. Ich war selten so geschockt nach einem Telefonat!" Kurze Zeit später brach sie das Studium dort ab und wechselte nach Tübingen - wo ihr der Nachteilsausgleich gewährt wurde.

"Die Hochschulen sind das Problem"

Seit einem Grundsatzurteil des Oberverwaltungsgerichts Schleswig-Holstein aus dem Jahr 2002 (siehe Interview) muss Legasthenie hochschulrechtlich als Behinderung verstanden werden. Betroffene müssen vielerorts trotzdem um den per Gesetz vorgesehenen Nachteilsausgleich kämpfen. Einige Unis wollen nicht einmal die Diagnose Legasthenie ohne Weiteres anerkennen: Atteste werden ignoriert und als veraltet bezeichnet, obwohl erwiesen ist, dass Legasthenie eine dauerhafte Beeinträchtigung ist. Dass es auch unbürokratisch geht, zeigt die Uni Würzburg. "Ich empfehle, den Nachteilsausgleich zu übernehmen, der auch in der Schule gewährt wurde, inklusive Notenschutz", sagt Sandra Ohlenforst. Notenschutz bedeutet, dass die Rechtschreibung nicht bewertet wird. "Bei uns zählt das fachliche Wissen, nicht die Rechtschreibung."

In einer idealen Welt ist das wohl das ideale Vorgehen. Aber die Welt ist nicht immer ideal, und es gibt Studenten, die sich per Legasthenie-Attest einen Vorteil erschleichen wollen. Es ist eine Mischung aus Angst vor derlei Trittbrettlegasthenikern und der Ignoranz gegenüber der Behinderung, die manche Diskussionen über den Umgang mit Legasthenikern vor Gericht enden lässt. In den allermeisten Fällen bekämen Studenten jedoch in solchen Fällen den ihnen zustehenden Ausgleich, sagt der auf Hochschulrecht spezialisierte Anwalt Johannes Mierau. Dafür ist nicht immer ein Urteil nötig. "Die Hochschulen wollen oft weitere Grundsatzurteile, auf die sich andere Betroffene berufen könnten, vermeiden, und einigen sich lieber auf anderem Wege." Das heißt: Manche Unis sträuben sich zuerst, gültiges Recht anzuerkennen, und handeln dann doch, wenn sie feststellen, dass sie juristisch auf verlorenem Posten stehen.

Behinderung - nicht Krankheit

Legasthenie ist eine Beeinträchtigung des Erlernens von Lesen und Rechtschreibung, die auf Besonderheiten der Gehirnfunktion zurückzuführen ist. Da es sich dabei um eine sogenannte Teilleistungsstörung handelt, haben Betroffene nur beim Umgang mit Sprache Probleme, andere Bereiche ihrer intellektuellen Leistungsfähigkeit sind nicht betroffen. Im Internationalen Klassifikationsschema für psychische Störungen (ICD-10) der Weltgesundheitsorganisation wird Legasthenie auch als "isolierte Rechtschreibstörung" bezeichnet. Da die Legasthenie eine dauerhafte Beeinträchtigung darstellt, handelt es sich um eine Behinderung - nicht um eine Erkrankung. Diagnostiziert wird sie in den meisten Fällen im Kindes- oder Jugendalter. Dabei machen entsprechend spezialisierte Psychiater oder Psychotherapeuten unter anderem einen Schreib-, Lese- und Intelligenztest mit dem betroffenen Kind. Es gibt keine standardisierte Therapie, jeder Legasthenie-Fall muss individuell analysiert und gefördert werden. Durch die verschiedenen Legasthenie-Erlasse werden Schüler in jedem Bundesland anders behandelt. In den allermeisten Ländern werden ihnen jedoch bei Vorlage eines Attests ein Nachteilsausgleich sowie Notenschutz (die Rechtschreibung wird in Klausuren nicht bewertet) bis mindestens einschließlich der zehnten Jahrgangsstufe zugebilligt. mkoh

Doch selbst wenn Universitäten den Nachteilsausgleich gewähren wollen, bleibt die Frage: Wie soll der im Einzelfall aussehen? Gerd Schulte-Körne, Direktor der Münchner Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie sowie Legasthenie-Spezialist, erklärt das Problem so: "Der Nachteilsausgleich soll Chancengleichheit herstellen, den Legasthenikern aber natürlich keinen Vorteil gegenüber Kommilitonen verschaffen." Unterstützung für Studenten mit Lese-Rechtschreibstörung muss sich also an der Ausprägung ihrer Behinderung orientieren. Dem einen helfen 20 Prozent Aufschlag bei der Zeit für eine Klausur, während ein anderer besser alleine in einem ruhigen Raum schreiben sollte. Dabei darf der Nachteilsausgleich nicht so weit gehen, dass die Prüfung für die Legastheniker einfacher wird als für Kommilitonen.

Ein Dilemma, das Fachleute vor schwierige Aufgaben stellt. Aber eines, mit dem sich Hochschulen auseinandersetzen müssen. Denn bei allen nicht zentral geregelten Studiengängen legen die Unis ihre eigene Prüfungsordnung fest. "Die Hochschulen sind das Problem", sagt Schulte-Körne. "Sie müssen handeln, wenn sich für die Legastheniker unter den Studenten etwas verbessern soll."

Durchhaltevermögen wegen Legasthenie

Anne Lax etwa hält wenig von Zeitverlängerungen in Klausuren. Wenn am Ende der Prüfung alle Kommilitonen aufstünden, "ist so eine Unruhe im Raum, da kann man sich nicht mehr konzentrieren". Sie könne ja die Zeit zum Korrekturlesen ihrer Arbeit nutzen, hat ihr ein Dozent einmal geraten. Das bringt nichts, meint Lax: "Wenn ich nachdenke, wie ein Wort geschrieben wird, ist es hoffnungslos." Bei ihr wird aktuell nur die Rechtschreibung nicht bewertet, ansonsten schreibt sie alle Prüfungen inklusive Hausarbeiten genau so wie ihre Mitstudenten auch.

Um für alle Kommilitonen Aufklärung zu betreiben, engagiert sich Lax bei den Jungen Aktiven im BVL. Mit ihrer eigenen Behinderung versucht sie etwas offensiver umzugehen als früher - und hat sie zum ersten Mal gegenüber einem potenziellen Arbeitgeber erwähnt. Die Politikwissenschaftlerin will im kommenden Semester ein Praktikum bei einer EU-Institution in Brüssel absolvieren. "Bei meinen Stärken habe ich Durchhaltevermögen angegeben, und das mit meiner Legasthenie begründet", sagt sie. Sie lacht dabei.

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