Kindesmissbrauch:"Es wird zu viel geschwiegen"

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Das deutschlandweite Programm "Schule gegen sexuelle Gewalt" kommt nicht so schnell in den Schulen an wie erhofft. Nun will der Bundesmissbrauchsbeauftragte den Bund in die Pflicht nehmen.

Interview von Susanne Klein

SZ: Herr Rörig, Sie haben im Auftrag des Bundes vor einem Jahr Ihre Initiative "Schule gegen sexuelle Gewalt" vorgestellt. Die Kultusministerkonferenz, in der alle Bundesländer vertreten sind, heißt das Programm ausdrücklich gut. Trotzdem ist am Freitag mit Bayern erst das fünfte Bundesland in die Umsetzung gestartet. Macht Ihnen das Sorgen?

Johannes-Wilhelm Rörig: Das treibt mich regelrecht um. Jedes Jahr werden bei der Polizei allein 12000 Fälle sexuellen Kindesmissbrauchs angezeigt, dazu kommt ein riesiges Dunkelfeld. Diverse Umfragen belegen, dass etwa jedes zehnte Kind sexuelle Grenzverletzungen, Übergriffe oder Missbrauch erleidet. Die Zahlen sind seit Jahren konstant, sie sinken nicht. Jedes Jahr, in dem nicht gehandelt wird, sind erschreckend viele Kinder ohne Schutz und Hilfesangebote sexueller Gewalt ausgesetzt. Dabei wissen wir, dass durch Prävention die Fallzahlen runtergehen.

Woher wissen Sie das?

Aus Langzeitstudien, zum Beispiel in den USA, wo es schon seit mehr als 20 Jahren Präventionsmaßnahmen gibt. In diesem Zeitraum sind die Zahlen dort um über 60 Prozent zurückgegangen. Das ist für mich das Maß aller Dinge: Wie kommen wir runter von unseren hohen Fallzahlen?

Die Missbrauchsskandale, die Deutschland erschütterten, in der Odenwaldschule, im Internat von Kloster Ettal und im Canisius-Kolleg, liegen sieben Jahre zurück. Woran liegt es, dass noch immer zu wenig in den Schulen unternommen wird?

Damals ist die breite Öffentlichkeit mit diesem Tabuthema erst richtig konfrontiert worden, und ich glaube schon, dass die Sensibilität dadurch gewachsen ist. Aber nicht genug. Es wird zu viel geschwiegen und weggeschaut, immer noch. Aus denselben Gründen wie damals: aus Unsicherheit, aus Hilflosigkeit. In Workshops haben wir oft von Lehrkräften und Schulleitern gehört, dass sie sich schon schwer tun, mit Schülern über Sexualität zu reden, und noch viel schwerer über sexuelle Gewalt.

Kinder haben Kinderrechte und dürfen nein sagen, wenn sie sich bedrängt fühlen. Diese Botschaft transportiert eindrücklich das Theaterstück „Trau dich!“, ebenfalls ein Angebot des Bundes an die Länder. (Foto: Marcus Hertrich)

Was verunsichert die Lehrkräfte so?

Zum einen ist eine große Unsicherheit entstanden im Umgang mit Nähe und Distanz zwischen Lehrern und Schülern. Was ist noch möglich? Kann ich ein Kind tröstend in den Arm nehmen? Was ist, wenn ich im Sportunterricht Hilfestellung gebe und dabei aus Versehen das Geschlechtsteil eines Kindes berühre - muss ich mich dann entschuldigen, muss ich das irgendwo melden, schweige ich besser? Viele Lehrer wissen auch nicht, was sie tun können, wenn sie den Verdacht haben, dass ein Kind im familiären Bereich missbraucht wird. Es ist unbekannt, was in den Notfallplan gehört. Und was den Tatort Schule angeht: Lehrer haben auch Angst, einen Kollegen oder eine Kollegin zu Unrecht zu verdächtigen.

Und Sie wollen den Pädagogen helfen .

Genau. Wir haben wertvolles Material erarbeitet, dass sie vor Ort unterstützt. Verständliche Informationen: Was ist ein Schutzkonzept, wie baut man es auf, wer sollte beteiligt sein, welche Kooperationen nützen? Hat sich die Schule schon mit Gewalt- und Kriminalprävention befasst? Darauf kann sie aufbauen! Die konkreten Maßnahmen muss dann allerdings jede Schule selbst entwickeln.

Warum?

Weil jede anders ist. Das beginnt schon bei der Risikoanalyse. Ob Fremde in die Schule gelangen können, ob die Toiletten abschließbar sind, ob schon ein Fotografierverbot für Umkleiden und Duschen ausgesprochen wurde. Oder die Frage, wo ein Kind, dass Missbrauch erlitten hat, Hilfe findet, welche Ansprechpartner es gibt.

Gibt es Schulen, die anderen als Vorbild dienen können?

Ja, sogar welche, an denen Missbrauch stattgefunden hat. Das Canisius-Kolleg in Berlin zum Beispiel hat ein Leitbild erarbeitet, einen Verhaltenskodex aufgestellt, es schult Lehrkräfte und führt Präventionsworkshops für Kinder und Jugendliche durch. Ein tolles Angebot an Schulen ist auch die Initiative "Trau dich!", die mit Lehrerfortbildungen, Elternabenden und einem interaktiven Theaterstück für Acht- bis Zwölfjährige durch Deutschland tourt.

Johannes-Wilhelm Rörig, 57, ist Unabhängiger Beauftragter für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs. (Foto: Christine Fenzl)

Was können die Kinder dabei lernen?

Nein zu sagen, wenn sie im Kontakt mit einem Erwachsenen oder Jugendlichen etwas eklig finden oder nicht möchten. Kinder können lernen, was zulässig und was unzulässig ist, und dass sie Kinderrechte haben. Dass sie kein schlechtes Geheimnis bewahren müssen, sondern Hilfe holen bei jemandem, dem sie vertrauen.

"Trau dich!" ist ein Angebot des Bundesfamilienministeriums und der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung. In vier Jahren haben es erst sieben Bundesländer wahrgenommen.

Die Landeshoheit in der Bildung ist nun mal da. Außerdem müssen die Länder Teile des Angebots selbst auf die Beine stellen. Das gilt auch für unsere Initiative: Wer im Kinderschutz schon gut dasteht, kann sich schneller anschließen als andere. Ein Land braucht Fachberatungsstellen, Sozialarbeiter in den Schulen, Experten in Lehrerinstituten und Schulentwicklungsämtern. Oft fehlen dafür die Ressourcen und das Geld.

Wie teuer ist es, Ihr Konzept umzusetzen?

Die Startphase kostet etwa 5000 Euro je Schule. Das reicht für die Fachberatungsstelle, die beim Entwickeln des Schutzkonzepts hilft, und für eine eintägige Inhouse-Schulung vieler Lehrkräfte oder die Intensivschulung Einzelner, die ihr Wissen dann im Kollegium weitertragen.

Sollte der Bund den Ländern Geld geben?

Ja, ich sehe den Bund hier in der Pflicht. Dazu werde ich mich diesen Donnerstag in der Bundespressekonferenz äußern. Dort werde ich die künftigen Koalitionspartner auffordern, ein neues Kapitel im Kampf gegen sexuellen Kindesmissbrauch aufzuschlagen, und ich werde mein Konzept dafür vorstellen.

Wird darin auch die Digitalisierung der Schulen eine Rolle spielen?

Selbstverständlich. Mich besorgt, dass alle nur über die Chancen der Digitalisierung sprechen. Ich werde dafür kämpfen, dass auch intensiv über die Gefahren und die nötige Vorbeugung gesprochen wird.

© SZ vom 02.10.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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