Kampf für Inklusion:"Werden tausend Schüler dümmer, weil Henri da sitzt?"

Kampf für Inklusion: "Henri ist kein Fall, Henri ist ein Kind!": Kirsten Ehrhardt mit ihrem Sohn

"Henri ist kein Fall, Henri ist ein Kind!": Kirsten Ehrhardt mit ihrem Sohn

(Foto: Uwe Anspach; privat)

Kirsten Ehrhardt kämpft seit Jahren dafür, dass ihr Sohn mit Downsyndrom an einer Regelschule unterrichtet wird. Im Sommer wechselt er auf die Realschule. Happy End?

Interview von Lars Langenau

Ein kleiner Junge mit Downsyndrom löste vergangenes Jahr einen heftigen Streit über die Inklusion aus. Henri wurde zur Symbolfigur für den Umgang mit behinderten Kindern im deutschen Schulsystem, zum Gradmesser für den Fortschritt bei der Inklusion. Sperren wir Behinderte aus? Sind sie ein Tabu? Betrachtet man das Presseecho, dann muss Henri ein sehr mächtiger Mensch sein. Ein Gespräch mit seiner Mutter.

SZ: Frau Ehrhardt, ich packe jetzt mal alle Vorwürfe in meine ersten Sätze: Sie haben ein schweres Schicksal, aber akzeptieren Sie endlich, dass Ihr Sohn Henri behindert ist! Nehmen Sie das an und schweigen Sie!

Kirsten Ehrhardt: Ich habe kein schweres Schicksal. Wir haben einen anderen Weg als andere Menschen, aber das haben wir alle. Jeder hat einen anderen Job im Leben. Unser Job als Eltern ist, für unseren Sohn zu kämpfen und für ein Stück Normalität. Aber das ist die Sichtweise auf Menschen mit Behinderung und auf ihre Angehörigen in Deutschland. Genau das akzeptieren wir nicht.

Sind Sie überehrgeizig?

Wenn man versucht, ein Menschenrecht durchzusetzen, ist man dann besonders ehrgeizig? Wir verstoßen in Deutschland täglich gegen die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung. Das kann und darf sich kein Land der Welt leisten. Inklusion ist kein Gnadenakt, sondern eine humane und demokratische Verpflichtung.

Henri ist zu einem Symbol geworden, das weltweit Beachtung findet. Ist er inzwischen eine Galionsfigur Ihres eigenen Kampfes? Stellen Sie ihn aus?

Nein, wir schützen ihn sehr stark. Es gab viele Jahre keine Berichte oder Reportagen aus seiner Klasse. Erst mit einem konkreten Anliegen sind wir an die Öffentlichkeit gegangen. Das war offensichtlich notwendig - und solange es Henri damit gutgeht, ist das in Ordnung. Wir wählen sehr genau aus, wenn wir da reinlassen. Doch mit Medien über abstrakte Fälle zu sprechen, geht nicht, das weiß ich aus meiner Zeit als Journalistin. Mein Buch würde auch nicht berühren, wenn ich 272 Seiten über die Theorie der Inklusion geschrieben hätte. Wir mussten also sagen: Es geht um unser Kind! Henri bekommt davon allerdings relativ wenig mit, da er in einen engen Freundes- und Familienkreis eingewoben ist, der ihn schützt. Dazu gehören auch seine tollen Lehrer. Dass sein Foto auf dem Titel des Buches ist, findet er lustig. Ansonsten ist es für ihn nicht so spannend, da es weder von Piraten noch von Robin Hood handelt.

Inklusion

Inklusion heißt wörtlich "Zugehörigkeit", also das Gegenteil von Ausgrenzung. Die Aktion Mensch beschreibt es auf ihrer Website wie folgt: "Wenn jeder Mensch - mit oder ohne Behinderung - überall dabei sein kann, in der Schule, am Arbeitsplatz, im Wohnviertel, in der Freizeit, dann ist das gelungene Inklusion. In einer inklusiven Gesellschaft ist es normal, verschieden zu sein. Jeder ist willkommen." Inklusion ist seit 2008 ein Menschenrecht, das in der UN-Behindertenrechtskonvention festgeschrieben ist. Deutschland hat diese Vereinbarung unterzeichnet - mit der Umsetzung von Inklusion steht es aber noch am Anfang. Statistisch gibt es in Deutschland mindestens sechs Prozent Kinder mit zusätzlichem Förderungsbedarf in jedem Einschulungsjahrgang. Drei Viertel aller Kinder mit Behinderung besuchen in Deutschland eine Sonderschule oder "Förderschule". In Europa insgesamt sind es nur zwei Prozent.

Warum lassen Sie Henri nicht in dem Schonraum einer speziellen Förderanstalt?

Ein Schonraum ist doch der spezielle Blick auf Menschen mit Behinderung, bei dem wir denken, wir müssten sie schützen, weil sie schwächer und besonders schutzbedürftig sind. Wir aber wollen Henri für das Leben in der Gemeinschaft fit machen - und nicht für das Leben in einer geschützten Gruppe, Hand in Hand mit Betreuern und anderen Menschen mit Behinderung, wo er in eine spezielle Arbeitsstätte gefahren wird oder gemeinschaftlich ins Kino gehen muss. Nein, er soll so weit wie möglich autonom leben. Frei zu sein bedeutet auch, zu sagen: Ich möchte heute Abend alleine mit dem Bus ins Kino fahren - und nicht darauf zu warten, bis eine Gruppe aus dem Behindertenwohnheim sich einen Film anschaut, den ich mir selbst nicht ausgesucht habe. Das ist nicht das Leben, was wir ihm wünschen. Wir wollen, dass er darf, was er kann und was er selbst will. Leider ist das in Deutschland nicht so. Ich empfinde es als nicht fair, ihn einzuschränken. Wir würden es uns doch auch nicht gefallen lassen, wenn uns jemand unser Leben so vorschreiben will. Er soll versuchen, seine Träume zu leben. Das wünsche ich mir übrigens für meine beiden Kinder.

Sie sagen selbst, dass Henri am Gymnasium kein Abitur machen wird, weil er das nicht kann. Warum dann der ganze Kampf?

An keiner allgemeinbildenden Schule wird Henri voraussichtlich einen Abschluss machen. Aber das ist auch das Prinzip von zieldifferenter Beschulung, dass die Kinder andere Bildungsziele haben. Wir sprechen nicht über die klugen Rolli-Fahrer, sondern von Kindern, die eben nicht den Geschwindigkeitszielen der Gesellschaft folgen können. Und das betrifft auch "lernbehinderte" Schüler, die nur in Deutschland so heißen. In anderen Ländern sind das eben einfach Kinder, die nicht so schnell lernen.

Warum unbedingt Gymnasium? Das war doch klar mit dem Widerstand.

Das war nicht allein unsere Idee, sondern als ein inklusiver Schulversuch des örtlichen Schulamtes gedacht. Die wollten zwei körperbehinderte Kinder und unseren Sohn aus dem Klassenverband der Grundschule am Gymnasium weiterführen. Wir wollten den Weg gehen, den andere Grundschulkinder auch gehen. Das schien uns eine Selbstverständlichkeit zu sein. Vielleicht war das im Nachhinein betrachtet auch ein bisschen blauäugig, denn es musste ja nicht unbedingt das Gymnasium sein. Wir haben unterschätzt, dass diese Schulform in Deutschland als etwas Unantastbares gilt.

"Alles soll so bleiben, wie es ist"

Es gab Widerstand vom Philologenverband, der Ständevertretung der Gymnasiallehrer, Druck von Elternvertretern, Schülern, anderen Lehrern. Die Befürchtungen lauteten, dass das Niveau sinke, die Studierfähigkeit und akademische Reife gefährdet werde. Schließlich sei das Gymnasium ein Hochleistungsbetrieb.

Wir Deutschen denken Schule offensichtlich immer noch wie zu Zeiten der Feuerzangenbowle. Und das Gymnasium ist die veränderungsresitenteste Schulform. Da stehen die Lehrer vorne, dozieren, halten Frontalunterricht und hinten sitzen die braven Kinder, die alle das gleiche mitschreiben - und dabei besonders gut lernen. Das ist zumindest die Vorstellung. Dass uns Hirnforscher und Pädagogen seit langem erklären, dass das so nicht funktioniert, wollen viele einfach nicht wahrhaben. Alles soll so bleiben, wie es ist. Dass sich das Gymnasium inzwischen völlig verändert hat und dort sicher nicht mehr nur noch die Elite zu finden ist, steht nochmal auf einem ganz anderen Blatt.

Manchen gelten Sie und Ihr Mann als "anstrengende Eltern". Was entgegnen Sie?

Anstrengend ist man immer, wenn man etwas anderes möchte als die Masse. Das ist so. Unsere Familie hat einen Schwur geleistet: Wir werden Henri niemals durch unsere geringeren Erwartungen behindern - und ihm niemals Grenzen, unsere Grenzen, vordefinieren.

"Das haben wir noch nie so gemacht!" Was antworten Sie darauf?

Dann würden wir noch heute ohne Feuer wie in der Steinzeit in der Höhle sitzen.

Können Sie die Ängste der Eltern verstehen, dass ihr Kind kürzer treten muss in einer Klasse mit Inklusion?

Ich kann die Ängste verstehen, aber ich glaube, dass man sehr gut darauf achten kann, dass niemand zu kurz kommt, wenn wir wirklich jedes Kind in den Blick nehmen. Auch die Kinder ohne Behinderung. Und wenn es Probleme geben sollte, dann kann man doch nachjustieren. Aber wir müssen doch erst Erfahrungen sammeln. Es ist ein wenig wie in einer Ehe, da ist doch auch nicht jeder Tag wunderbar, sondern man muss sich zusammenraufen. Oft habe ich das Gefühl, dass die Skepsis nur heißt: Wir wollen das nicht. Es mag auch Angst vor dem Verlust von Privilegien, Angst vor dem Unbekannten sein. Doch das, was wir kennen, müssen wir nicht fürchten. Und Angst bringt Menschen niemals voran.

Ihre Kritiker warnen auch vor den Kosten, die das bedeutet: Zwei Lehrer in jeder Klasse, nötige Umbauten etc. pp.

So lange mit dem Regelschulen und Förderschulen zwei Systeme existieren, sind hier Milliarden Euro gebunden. Also sollten wir uns Schritt für Schritt von dem Sondersystem trennen - und die Gelder in ein wirklich inklusives System umschichten. Wie uns Experten vorgerechnet haben, mag das in einer Übergangsphase teurer sein, später aber nicht.

"Wir lassen derzeit auch andere Kinder zurück"

Laut einer aktuellen Forsa-Umfrage überfordert Inklusion die Lehrer. Fast 60 Prozent der Lehrer haben keine sonderpädagogischen Kenntnisse.

Ich habe auch keine sonderpädagogischen Fortbildungen und muss mich trotzdem jeden Tag um mein Kind kümmern. Die Jobs in fast allen Lebensbereichen haben sich doch in den vergangenen Jahren brutal verändert - und ich finde, dass sich auch alle auf veränderte Arbeitsbedingungen einstellen müssen. Das erwarte ich. Die Lehrer können Fortbildungen und gute Bedingungen fordern. Aber sich total zu verweigern, kann man doch in anderen Berufen auch nicht. Außerdem schließen sich Inklusion und Eliteförderung überhaupt nicht aus. Es geht doch bei beiden darum, das einzelne Kind mit seinen Fähigkeiten und Bedürfnissen in den Blick zu nehmen. Weil wir das nicht wirklich tun, ist unser Bildungssystem auf internationalem Niveau nicht konkurrenzfähig. Wir lassen derzeit auch andere Kinder zurück: Die mit Migrationshintergrund oder arme, die sind doch nicht alle dümmer. Es ging hier um ein Kind mit Downsyndrom an einem Gymnasium mit tausend Schülern. Was denken die denn? Dass tausend Schüler dümmer werden, weil Henri da sitzt und mit dem Abakus seine Matheaufgaben löst? Das ist doch absurd.

Meine Tochter muss sich beim Wechsel aufs Gymnasium auch von Freundinnen trennen. Warum sollte das bei Henri anders sein?

Weil die Aussonderung bei ihm ein Zwangsbruch wäre, den Menschen mit Behinderung immer wieder erleben. Inklusion hat auch den positiven Effekt, dass man innerhalb seines sozialen Umfeldes leben kann. Es ist vergleichbar mit der Situation eines Stammtisches und Sie sitzen im Rollstuhl. Plötzlich verlegt man den in ein neues Lokal, aber im ersten Stock. Das ist nicht nur gedankenlos, das ist gemein. Es ist wie fast immer: Man hat Menschen mit Behinderung gar nicht auf dem Schirm. Eine inklusive Gesellschaft denkt jedoch vor, sie denkt sie und ihre Bedürfnisse von Anfang an mit.

Führen Sie bitte den Satz zu Ende: "Wir haben ja nichts gegen Behinderte, aber ..."

(lacht) Das ist der Lieblingssatz der Bremser. Aller derjenigen, die es im Grund nicht wollen. Wer Inklusion will, sucht Wege. Wer Inklusion nicht will, sucht Begründungen. Das sagte mal ein Behindertenbeauftragter - und trifft damit genau den Punkt. Wege werden nur gangbar, indem man sie geht. Und nicht indem man jahrelang darüber diskutiert, wie schwierig das sei und wie viele Steine da liegen könnten.

Was kann Henri nicht, was andere Zwölfjährige können?

Schwierige Frage. Wir schauen nicht, was er kann und was er nicht kann. Er kann zum Beispiel nicht am örtlichen Schachturnier teilnehmen: Sicherlich kann man ihn im Lernen als entwicklungsverzögert bezeichnen, aber er hat auch eine Meinung zu Sachen und Menschen. Wenn jemand unhöflich ist, dann formuliert er das auch und das sind durchaus die Vorstellungen von einem Zwölfjährigen. Henri tanzt gern und spielt Fußball, lernt Schlagzeug, schwimmt wie ein Fisch und steht als Ministrant am Altar. Gerade wollte er in der Kirche drei Kerzen anzünden: Eine für meine verstorbene Mutter, eine für seinen schon im Zweiten Weltkrieg gefallenden Großonkel und eine für die Opfer des Flugzeugabsturzes in Frankreich. Er hat schon ganz früh Empathie und Anteilnahme gezeigt - und er ist frech und selbstbewusst. Keine schlechten Eigenschaften.

"Monokulturen sind etwas Schreckliches"

Auf was ist er besonders stolz?

Wenn er etwas zeigen kann, was er hergestellt, geschrieben oder gelesen hat. Oder wenn andere klatschen, wenn andere ihn ernst nehmen, oder er von einem Mitschüler gefragt wird, ob er mit ins Schwimmbad gehen möchte. Das fragt der ja nicht aus Mitleid, sondern weil er gemeinsam mit Henri Spaß haben möchte. Oder wenn wir ihn loben. Ich habe mit dem Loben auch viel für meine große Tochter gelernt. Das heißt jedoch nicht, dass man Kindern dauernd sagen muss, dass sie großartig sind. Nur, dieses ewige Kritisieren und Kleinmachen, das führt doch zu nichts.

Was können uns behinderte Kinder lehren?

Sie können uns Vielfalt lehren, dass jeder anders ist. Dass jeder zum Zusammenleben beitragen kann. Dass das nichts Defizitäres ist. Monokulturen sind etwas Schreckliches, nicht nur beim Mais, sondern auch beim Menschen.

"Henri kann sich die Schuhe zubinden, einkaufen und allein aufs Klo gehen. Wozu braucht er Lesen, Schreiben, Rechnen?", fragen manche Ihrer Kritiker.

Das ist eine Anmaßung. Warum sollte er denn nicht lesen, schreiben und rechnen lernen? Weil er später in einer Behindertenwerkstatt verschwindet und dann ins Wohnheim, wo wir ihn nicht mehr sehen? Warum lassen wir ihn nicht das lernen, was er lernen kann? In seinem Tempo und im Rahmen seiner Möglichkeiten. Lernen im Gleichschritt ist doch ein Anachronismus.

Bekommen Sie auch Kritik von Eltern, die ihre Kinder auf Sonderschulen und später in eben diesen Werkstätten haben und ihre Kinder als glücklich bezeichnen?

Ja, natürlich gibt es Menschen, die den Schonraum pflegen. Aber auch andere, die sagen: Unser Kind hatte nie andere Möglichkeiten. Es gibt ein weitverbreitetes Vorurteilsbild über Menschen mit Behinderungen, es ist das Bild des lebenslang unselbständigen Fürsorgeempfängers. Wir trauen ihnen einfach nichts zu. Es ist ein Teufelskreislauf aus geringen Erwartungen und geringen Ergebnissen.

Bis zu welchem Grad der Behinderung ist Inklusion in der Schule möglich? Sehen Sie Grenzen?

Nein, andere Länder wie Italien, Kanada, Finnland zeigen, dass selbst eine Beschulung im Krankenbett im Klassenzimmer funktioniert. Es kann ja auch mal Pflegepersonal mit dabei sein. Warum denn nicht? Alle Untersuchungen und Studien zeigen, dass Kinder mit Behinderungen die anderen Kinder in ihrem Lernerfolg nicht behindern. Und dass inklusive Klassen überwiegend starke sind, weil sich dort das Lernen und der Umgang miteinander verändert hat.

Halten Sie Sonderschulen und Behindertenwerkstätten grundsätzlich für falsch?

Falsch ist nicht das richtige Wort. Sie sind nicht mehr zeitgemäß, zumindest was die internationale Gemeinschaft darunter versteht: Wir wollen zusammenleben und nicht separieren, auch wenn das Motiv Schutz war. Wir müssen das in Deutschland erst neu denken, weil auch die Entscheidungsträger alle mit der Ausgrenzung aufgewachsen sind. In Italien, wo die Inklusion viel weiter fortgeschritten ist, da ist mittlerweile eine zweite Generation von Lehrern und Eltern aktiv, für die ein inklusives System völlig normal ist und das gar nicht mehr in Frage stellen, weil sie einfach nichts anderes erlebt haben. Richard von Weizsäcker hat mal Folgendes gesagt: Was gar nicht erst getrennt wird, muss später nicht mühsam integriert werden.

Henri braucht keine Extrawürste

Wie ist Ihre Einstellung zu Noten?

Die sehe ich eher kritisch, aber wenn es die schon gibt, dann soll auch Henri welche bekommen. Für das, was er auf seinem Anforderungsprofil geleistet hat. Er braucht da keine Extrawürste. Er muss sich anstrengen und ausloten, was er kann und was nicht, sonst könnte er auch nicht in einer sozialen Gesellschaft leben. Ein Beispiel: Henri bekommt ein Wortdiktat, kein normales. Und wenn er alle Wörter richtig schreibt, dann bekommt er eine eins. Die anderen Kinder verstehen das übrigens wunderbar und beklatschen eine gute Note von ihm. Obwohl sie wissen, dass es ein anderes Diktat war als ihres. Wenn man den Kindern dieses System gut erklärt, dann gibt es auch keine Eifersucht oder Neid.

Auf wen können Sie sich verlassen? Auf Politiker?

Die haben sich eher zurückgehalten. Verbündete sind alle die, die begriffen haben, worum es uns geht: Um eine andere Gesellschaft.

Aber die grün-rote Landesregierung in Baden-Württemberg hätte sich das doch auf die Fahnen schreiben müssen.

Das haben wir auch gedacht, aber dem war nicht so. Die Entscheidung im vergangenen Jahr, den Schulversuch nicht an dem Gymnasium Walldorf mit den drei behinderten Kindern durchzuziehen, war keine inhaltliche, sondern eine politische Entscheidung. Sein Mut würde sich wohl nicht in Wählerstimmen niederschlagen, hat SPD-Kultusminister Andreas Stoch offenbar knallhart kalkuliert. In Nordrhein-Westfalen, Hessen, Niedersachsen und Schleswig-Holstein ist man da viel weiter. Da gibt es geistig behinderte Kinder auch an Gymnasien, die zieldifferent unterrichtet werden. Das Engagement für Inklusion ist aber nicht parteipolitisch und darf es auch nicht sein. Auch in konservativen Parteien haben Menschen das Prinzip verstanden. Das finde ich gut.

Wie sieht für Sie die ideale Schule aus?

Ich bin Mutter, nicht Pädagogin. Aber die ideale Schule ist für mich die, die jeden respektiert, so wie er ist. Und die jeden Menschen nach seinen Möglichkeiten fördert. Die würde auch viel besser auf das Arbeitsleben vorbereiten. Zu den Kernkompetenzen eines Chefs gehören doch auch, unterschiedliche Begabungen zu erkennen und in einem Team zu fördern.

Frau Ehrhardt, Ihr Kind darf ab kommendem Schuljahr die Realschule in Walldorf besuchen. Happy End eines langen Kampfes für die Inklusion ?

Manchmal bestraft das Leben den, der zu spät kommt, und manchmal auch den, der zu früh kommt. Das neue Schulgesetz, das die Inklusion festschreibt, kommt erst im August dieses Jahres. Für Henri hat es eine gute Lösung gegeben, die uns und ihn sehr freut. Doch das gilt noch lange nicht für unsere Gesellschaft insgesamt.

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Kirsten Ehrhardt, 52, hat ein im besten Sinne aufklärerisches Buch über ihre Erfahrungen mit ihrem jetzt zwölf Jahre alten Sohn geschrieben, das gerade veröffentlicht wurde: "Henri. Ein kleiner Junge verändert die Welt." Heyne, 8,99 Euro.

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