Kölner Lebensart:"Niemand wird zwangsbeschunkelt"

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So lebt es sich in der Uni-Stadt Köln

Der Kölner ist immer gut gelaunt und liebt Karneval. So das Klischee. Müssen Zugezogene ein Spaß-Diktat fürchten? Psychotherapeut Wolfgang Oelsner über die verbindende Wirkung von Partyliedern - und die Freiheit, kein Narr sein zu müssen.

Von Johanna Bruckner

Wer zum Studium nach Köln kommt, freut sich entweder auf den Karneval. Oder er fürchtet sich davor. Aber darf man sich in dieser Stadt der kollektiven Kostümparty überhaupt entziehen? Oder droht dann die soziale Ächtung? Wolfgang Oelsner ist Jugendpsychotherapeut aus Köln - und ausgewiesener Karnevals-Experte. Er hat mehrere Bücher zum Thema veröffentlicht, sein jüngstes trägt den Titel "Karneval - Wie geht das?" (erschienen im Bachem Verlag, Neuauflage 2013, auch auf Englisch erhältlich).

SZ.de: Herr Oelsner, Sie sind gebürtiger Rheinländer. Dem Klischee nach müssten Sie ein sehr fröhlicher Mensch sein.

Wolfgang Oelsner: Ich schaue gerne positiv in den Tag hinein und mag Feste in der Gemeinschaft. Rheinländer haben zwar keine anderen Gene. Aber in Köln wird ein bestimmtes Wir-Ideal gelebt - das einer lebensfrohen Stadt.

Was macht die Kölner Seele aus?

Zum beschworenen Selbstbild der Kölner gehört es, die Dinge von der gelassenen, heiteren Seite zu sehen. Hier will man nichts so heiß essen, wie es von anderen gekocht wurde. Die Stadt ist dem Klischee nach außerdem tolerant, plural, multikulturell, offenherzig, auch manchmal mit der Kehrseite des Unverbindlichen. Dass sich solche Eigenschaften als Selbstbild festsetzen können, hat auch mit dem kollektiven Sprachgut zu tun.

Wie meinen Sie das?

Neben Wien und Paris gibt es kaum eine Stadt, über die so viele Lieder geschrieben wurden wie über Köln. Lieder zur Selbstbefindlichkeit: Wie fühlen wir uns? Wie wollen wir sein? "Viva Colonia" von den Höhnern beschreibt beispielhaft, wie der Kölner sich selbst gerne sieht: "Wir lieben das Leben, die Liebe und die Lust, wir glauben an den lieben Gott und ha'm auch immer Durst." Volkslieder verdichten hochkomplexe Themen - Liebe, Lust, Religion - und brechen sie auf einfache Formeln herunter. Deshalb werden sie in Festzelten auf dem Münchner Oktoberfest ebenso gesungen wie auf Betriebsfesten oder bei Fußballspielen. Wenn solche Botschaften von einer Stadt ausgehen, bleibt zwangsläufig etwas hängen.

Welche Rolle spielt der Karneval?

Der Karneval ist so etwas wie der ideologische Mäzen der Kölner Identität. Nach außen stellt sich der Karneval immer als ein Fest der Straße dar. Diese Bühne ist natürlich wichtig, aber entscheidender ist, wie der Karneval im Inneren wirkt.

Nämlich?

Er durchdringt alle Altersgruppen, Schichten und sogar Herkunftskulturen. In den närrischen Tagen verkleiden sich Kinder genauso wie Senioren, jede Sparkasse ist geschmückt, jedes Krankenhaus, und mitunter auch der türkische Obst- und Gemüsehändler oder das griechische Lokal. Vom Pförtner bis zum Vorstandsvorsitzenden macht jeder mit. Volksfeste wie der Karneval haben - bei aller berechtigten Kritik an offensichtlichen Missständen - eine integrierende Wirkung, sie sind offen für andere. So sind Lieder wie "Stammbaum" oder "Drink doch eine mit" von Bläck Fööss natürlich in erster Linie Lobgesänge auf die Stadt, aber gleichzeitig schwingt mit: Alle, die kommen wollen, sind willkommen.

Rose Monday Is Highpoint Of Carnival Season

Mancher kann sich einer Verkleidung dann doch nicht erwehren.

(Foto: Getty Images)

"Es geht um den schnellen Kick, um größtmöglichen Konsum"

Gilt das auch für den Rest des Jahres?

Es heißt, Köln mache es einem einfach, sich zu Hause zu fühlen. Jedenfalls hört man diese Äußerung von vielen Zugezogenen.

Aber werden nicht all diejenigen ausgrenzt, die sich nicht mit Karneval identifizieren können oder wollen?

Nein. Kölner, die vor den tollen Tagen flüchten - und das sind nicht wenige - werden deswegen nicht schief angeguckt. Es gibt durchaus Jahre oder Lebensphasen, in denen man lieber abhaut, und solche, in denen man gerne mitten drin ist. "Levve un levve losse", das gilt auch im Karneval. Die fünfte Jahreszeit dauert - nach dem Auftakt am 11.11. - von Neujahr bis Faschingsdienstag, da kann man gar nicht alles mitmachen, es gibt einfach zu viele Angebote. Das ist gleichzeitig die große Chance: Fast jeder findet etwas, das ihm gefällt. Der eine ist beim Pfarrkarneval zuhause, der andere im kabarettistischen Milieu, ein Dritter mag es derber - "Knall der Kneipen" - und ein Vierter liebt es elegant in Abendgarderobe. Man kann auf der Straße feiern, im Festsaal oder mit der Familie im Wohnzimmer. Oder eben auch gar nicht. Niemand wird zwangsbeschunkelt.

Wer in Köln geboren ist, wächst mit dem Karneval auf. Für Zugezogene kann das ein Kulturschock sein.

Stimmt schon. Kölner werden von Klein auf in die Karnevalskultur eingeführt - es existiert ein riesiges Vereinswesen. Aber die kindliche Liebe zu Karneval zeigt uns auch, dass es um mehr geht als Kostüme und Kamelle. Denn ein Kind muss sich nicht verkleiden, um in eine Rolle zu schlüpfen. Es ist das Privileg von Kindern, jeden Tag im Spiel jemand anders sein zu können. Für sie ist Karneval ein verlässlicher Termin im Jahreskalender. Bräuche helfen Kindern und Erwachsenen, sich zu verorten und zu binden, sie schaffen Vertrauen und über die Zeit ein Heimatgefühl. In diesem Sinne kann Karneval auch für Zugezogene ein wichtiges Fest sein. Nicht zuletzt bringt der Karneval in der jetzt beginnenden dunklen Jahreszeit Licht und Freude.

Und Kommerz und Komasaufen.

Ja, wie jedes große Volksfest ist auch der Karneval heute kommerzialisiert. Es geht vielen um den schnellen Kick, um größtmöglichen Konsum. Neu-Kölner sollten deshalb versuchen, dem ursprünglichen Gedanken von Karneval nachzuspüren.

Wie geht das am besten?

Indem sich Zugezogene jemanden suchen, der hier schon ein bisschen länger heimisch ist. Der sich auskennt, der weiß, wo man nur abkassiert wird und wo echte Karnevalsstimmung zu erwarten ist. Außerdem sollte man sich nicht zwingen, gleich das volle Programm mitzumachen. Im Rheinland gibt es das schöne Wort "spingksen": Das bedeutet, man lugt mal hinter dem Vorhang vor, um zu schauen, was es da draußen gibt. Wenn einem etwas gefällt, schön. Wenn nicht, einfach weggehen - diese Freiheit hat man immer. Der Karneval ist wie ein netter Infekt, das Fieber springt irgendwann über. Und dann lässt man sich gerne anstecken.

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