Inklusion:Je höher die Bildung, desto größer die Skepsis

Inklusion

Schülerin Tamina ist geistig behindert, sie hat Trisomie 21, genannt Downsyndrom. Im baden-württembergischen Rottenburg besucht sie eine Realschule.

(Foto: Daniel Naupold/dpa)

Jedes dritte Kind mit Behinderung wird in einer regulären Schule unterrichtet statt in einer Fördereinrichtung.

Von Johann Osel und Matthias Kohlmaier

In der Debatte über den Unterricht behinderter Kinder kommt es zu einem heftigen Streit zwischen Bildungsexperten und Gymnasiallehrern. Laut einer neuen Studie erreichte der Inklusionsanteil an Schulen zuletzt den bisher höchsten Wert: Fast jedes dritte Kind mit sonderpädagogischem Bedarf besuchte eine Regelschule statt einer Fördereinrichtung. Die Studie wurde am Donnerstag von der Bertelsmann-Stiftung veröffentlicht, erstellt hat sie der Bildungsforscher Klaus Klemm. "Zum gemeinsamen Lernen ist es aber trotz der Fortschritte ein weiter Weg", sagte der Stiftungsvorstand und frühere Hamburger Wissenschaftssenator Jörg Dräger. Inklusion sei "insbesondere an weiterführenden Schulen oft noch ein Fremdwort". Der Philologenverband, die Vertretung der Gymnasiallehrer, reagierte empört auf die Äußerung. Der Vorsitzende Heinz-Peter Meidinger nannte sie eine "Unverschämtheit und einen Affront gegenüber den immensen Anstrengungen der Gymnasien".

Die meisten Kinder mit festgestelltem Förderbedarf haben geistige Defizite

Die UN-Behindertenrechtskonvention sieht vor, dass Kinder "nicht aufgrund von Behinderung vom unentgeltlichen und obligatorischen Grundschulunterricht oder vom Besuch weiterführender Schulen ausgeschlossen werden" dürfen. Da Deutschland sie 2009 ratifizierte, gilt das Inklusionsprinzip, sollen also Kinder mit und ohne Handicap gemeinsam lernen. Wie die Umsetzung läuft, hat nun Klemm anhand von Daten der Kultusministerkonferenz analysiert. Kinder, bei denen Förderbedarf diagnostiziert ist, haben mehrheitlich Verhaltensstörungen, Lernbehinderungen, geistige oder sprachliche Defizite; Schüler mit rein körperlichem Handicap machen nicht mal ein Zehntel aller Diagnosen aus.

In allen Bundesländern sind laut Studie die Inklusionsquoten gestiegen. Bundesweit wurden im Schuljahr 2013/14 nun 31,4 Prozent der Schüler mit Förderbedarf inklusiv unterrichtet; fünf Jahre zuvor waren es nur 18,4 Prozent. Die Analyse von Professor Klemm, früher Mitglied im wissenschaftlichen Beirat der Pisa-Studie, macht aber deutlich, was ob des Bildungsföderalismus in vielen Bereichen gilt: Die Lage entwickelt sich unterschiedlich. So hat sich die Inklusionsquote in Niedersachsen seit 2008 zwar fast vervierfacht, mit 23,3 Prozent liegt das Land deutschlandweit dennoch auf dem vorletzten Platz. Nur in Hessen ist die Quote noch geringer, dort beträgt sie 21,5 Prozent. Spitzenreiter sind Bremen (68,5 Prozent), Schleswig-Holstein (60,5) und Hamburg (59,1). "Mit Blick auf die Inklusion gleicht Deutschland einem Flickenteppich", sagt Dräger.

Mehr förderbedürftige Kinder gehen in Regelschulen - logischerweise müsste daraus folgen, dass auch die Anzahl der Kinder und Jugendlichen an Förderschulen deutlich zurückgeht. Das ist jedoch nicht so, die sogenannte Exklusionsquote hat sich seit 2008 kaum verändert. Das liegt hauptsächlich daran, dass bei mehr Kindern sonderpädagogischer Bedarf diagnostiziert wird, der Anteil ist in dem Zeitraum in fast allen Ländern gestiegen. Kritiker stellen fest, dass sich das Diagnoseverhalten verändert habe und dass zum Beispiel bei leichten Lernproblemen heutzutage öfter eine Lernbehinderung attestiert werde.

Generell zeigt sich laut Klemm: Je früher die Phase im Bildungssystem, desto höher der Inklusionsanteil: In Kitas beträgt er mehr als zwei Drittel, in den Grundschulen knapp 47 Prozent, in der Sekundarstufe weniger als 30 Prozent. Weiterhin bleibe es auch dabei, so die Studie, dass es nur wenige Schüler mit Behinderung in einen höheren Bildungsgang schaffen. Von den inklusiv beschulten Kindern wird nur etwa jedes zehnte an einer Realschule oder einem Gymnasium unterrichtet. Die meisten Förderschüler in der Sekundarstufe verteilen sich auf die Gesamt- und Hauptschulen.

Inklusion, so heißt es bei den Gymnasien, bringe nur etwas für jene, die das Abi schaffen könnten

Gymnasien würden für Inklusion weniger personelle und finanzielle Mittel als für andere Schularten bereitgestellt, entgegnet Philologen-Chef Meidinger. Tatsächlich hängt die Umsetzung der Inklusion an Ausstattung und Lehrern. Das zeigte unlängst eine Forsa-Umfrage. Beim gemeinsamen Unterricht von Schülern mit und ohne Behinderung fühlen sich viele Pädagogen "ins kalte Wasser geworfen". Mehr als die Hälfte derjenigen, die behinderte Kinder unterrichten, hatte kaum Zeit, sich auf Inklusion vorzubereiten oder sich fortzubilden. Und eine Unterstützung durch Sozialpädagogen oder einen zweiten Lehrer in der Klasse ist keinesfalls die Regel.

Die geringere Inklusionsquote an Gymnasien sei auch prinzipiell zu erklären, teilte Verbandschef Meidinger mit, der Schulleiter im bayerischen Deggendorf ist: An den Gymnasien sei echte Inklusion nur für Schüler möglich, die Chancen hätten, das Bildungsziel zu erreichen, also das Abitur. "Kindern mit geistigen Behinderungen ist nicht gedient, wenn sie an eine Schulart gehen, an der sie mit zwei bis drei Fremdsprachen konfrontiert werden." Das sähen auch die Eltern so. Argumentieren kann er mit einer Eltern-Studie - aus dem Hause Bertelsmann. Da vertrat gut die Hälfte der Eltern die Ansicht, Inklusion gehe auf Kosten des fachlichen Lernens. Und während die Inklusion körperlich behinderter Schüler 90 Prozent der Mütter und Väter begrüßen, sehen nur etwa ein Drittel der Eltern geistig Behinderte in der Regelschule.

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