Gymnasium:Das Abitur ist mehr als Mathe und Deutsch

Abi-Prüfungen

In Mecklenburg-Vorpommern künftig auch "op platt": Abitur.

(Foto: dpa)
  • Schüler in Mecklenburg-Vorpommern können bald das Abitur im Fach Plattdeutsch ablegen.
  • Es gibt noch viele weitere Prüfungsfächer, die in wenigen oder nur einem Bundesland zugelassen sind.
  • Der Vergleichbarkeit der Prüfungsleistungen im Abi schadet das aber nicht.

Analyse von Matthias Kohlmaier

Mathe, klar, muss sein. Und Deutsch natürlich, wo kämen wir denn sonst hin. Dazu noch Englisch, ist ja wirklich wichtig heutzutage. Dass diese drei Fächer im Abitur eine zentrale Rolle einnehmen, darauf können sich die meisten Lehrer, Schüler, Eltern und Politiker problemlos einigen. Aber Abi im Fach Plattdeutsch, ist das wirklich notwendig?

Ja, findet man in Mecklenburg-Vorpommern, und hat durchgesetzt, dass künftige Schülergenerationen ihr Abi "op platt" ablegen können. An sechs Gymnasien wird das Fach verankert, dafür investiert das Bildungsministerium jährlich 450 000 Euro und schafft pro ausgewählter Schule eine zusätzliche Lehrerstelle. Der Unterricht solle "fachlich und didaktisch an den Fremdsprachenunterricht angelehnt" sein, sagt ein Sprecher. Mit dem Projekt setze man sich für den Erhalt der plattdeutschen Sprache ein.

Es ist freilich nichts dagegen einzuwenden, Sprachen und Dialekte zu pflegen, die vielerorts immer mehr in Vergessenheit geraten. Es bleiben aber Fragen: Ist es ungerecht, wenn Schüler in Bundesland A ein bestimmtes Fach belegen können, ihre Altersgenossen in Bundesland B aber nicht? Und wenn alle Länder sich 2017 über einen gemeinsamen Aufgabenpool für Mathe, Deutsch, Englisch und Französisch an länderübergreifendere Standards in der Abiturprüfung wagen, untergräbt ein Prüfungsfach wie Plattdeutsch dann nicht die Bemühungen um mehr Vergleichbarkeit?

Plattdeutsch ist schließlich ein sogenanntes länderspezifisches Prüfungsfach, das ausschließlich in Mecklenburg-Vorpommern geprüft wird. Ein Sonderfall ist das jedoch nicht, es gibt viele Fächer, die in wenigen oder auch in nur einem einzigen Bundesland im Abitur gewählt werden können. Ein paar Beispiele (die vollständige Liste finden Sie hier):

  • Bayern: Ungarisch, Portugiesisch, Russisch-orthodoxe Religionslehre
  • Berlin: Hebräisch, Jüdische Religionslehre
  • Bremen: Bautechnik
  • Nordrhein-Westfalen: Lettisch, Rumänisch
  • Sachsen: Sorbisch

Dass es diese Optionen theoretisch gibt, bedeutet aber längst nicht, dass sie in den jeweiligen Abiprüfungen auch eine praktische Bedeutung haben. In Bayern etwa hat in den vergangenen drei Jahren kein einziger Schüler sein Abi in den Fächern Ungarisch oder Portugiesisch abgelegt. Gerade mal elf Schüler wurden im gleichen Zeitraum in einem alternativen Religionsunterricht geprüft.

Wie viele Schüler bald in Plattdeutsch Abitur machen, wird sich noch zeigen. Dass es das Fach, wie auch die vielen anderen länderspezifischen Prüfungsfächer gibt, ist aber in jedem Fall sinnvoll - Zentralabitur hin oder her. Denn wer sich die Liste mit den Exotenfächern ansieht, stellt fest: Sie besteht fast ausschließlich aus Sprachen und alternativen Religionsunterrichten.

Dass Letztere ein mögliches Abiturfach sein sollten, ist schlicht eine Frage der Fairness; wenn ein Katholik oder Protestant in seiner Religion geprüft werden kann, gibt es keinen Grund, diese Möglichkeit einem Juden oder Russisch-Orthodoxen zu verwehren. Das gilt natürlich nur in den Bundesländern, die am konfessionell gebundenen Religionsunterricht festhalten. Wer die Religionsfreiheit ernst nimmt, der muss dort auch einen alternativen Religionsunterricht einschließlich möglicher Abschlussprüfung an den Gymnasien anbieten. Natürlich mit dafür ausgebildetem Lehrpersonal, das lehrt, ohne zu indoktrinieren.

"Das Abitur kann gar nicht vollkommen gerecht sein"

Bei den Sprachen lassen sich die Fächer in zwei Gruppen aufteilen. Die einen sind solche, die eine geografische Nähe zum Bundesland aufweisen - in Mecklenburg-Vorpommern wird auch Schwedisch im Abitur geprüft - oder kulturell einen Bezug zum Land haben. Neben Plattdeutsch wäre das etwa Sorbisch als anerkannte Minderheitensprache in Sachsen. Sie an den Schulen zu lehren und sogar im Abitur zu prüfen, ist gelebte Kulturerhaltung und Integration.

Bei den anderen Sprachen von Portugiesisch bis Lettisch sieht das anders aus. Sie haben einen geringeren oder gar keinen aktuellen Bezug zu den jeweiligen Bundesländern. Entsprechend hat man zum Beispiel in Bayern 2016 auf die nicht vorhandene Nachfrage reagiert, derzeit gibt es keine Möglichkeit mehr, Portugiesisch in der Qualifikationsphase des Gymnasiums zu belegen und später Abitur in dem Fach zu machen.

Dass immer wieder Fächer neu in den Lehrplänen auftauchen und gegebenenfalls auch wieder verschwinden, wundert Sabine Reh, Expertin für bildungsgeschichtliche Forschung, überhaupt nicht. Sie sagt: "Was gelernt werden soll und im Abitur geprüft wird, das ist wissenschaftlich nicht zu entscheiden. Lehrinhalte verändern sich mit gesellschaftlichen Veränderungen, mit den wissenschaftlichen Entwicklungen muss die schulische Bildung bis zu einem gewissen Grad Schritt halten." Darüber, was in der Schule gelernt werden solle, werde man auch in Zukunft weiter diskutieren, "und das finde ich richtig so".

Bleibt die Frage nach der Bildungs-, oder besser, der Abiturgerechtigkeit. Wissenschaftlerin Reh weist die jedoch zumindest ein Stück weit zurück: "Das Abitur kann gar nicht vollkommen gerecht sein." Wer das verlange, müsse sich auch Maschinen statt Lehrer wünschen, die an sämtlichen Schulen exakt den gleichen Stoff in exakt der gleichen Geschwindigkeit und unter den exakt gleichen Bedingungen lehren.

Nach diesen Kriterien - gleiche Bildung und gleiches Abitur für alle und überall - müsste man sich ohnehin um viel mehr Gedanken machen als nur um das ein oder andere kaum gewählte exotische Prüfungsfach. Im bayerischen Deutschabitur 2016 konnten die Prüflinge zum Beispiel unter anderem aus diesen beiden Themen eines zur Bearbeitung auswählen:

  • "Erschließen und interpretieren Sie das Gedicht Fremder von Hilde Domin! Gehen Sie dabei insbesondere darauf ein, welche Erfahrung das lyrische Ich in der Fremde macht! [...]"
  • "Erörtern Sie die Frage, ob das Lesen im Zeitalter digitaler Medien an Bedeutung verliert! [...]"

Zwei völlig unterschiedliche Aufgaben mit völlig unterschiedlichen Anforderungsprofilen. Lyrik und Epochenkenntnis hier, eine freie Erörterung basierend auf ein paar beigefügten Lesetexten und eigenen Erfahrungen dort. Trotzdem hatten die Schüler, die sich für die eine oder andere Aufgabe entschieden, am Ende beide eine Zensur im Fach Deutsch.

Gerechtigkeit und Vergleichbarkeit wird in der Bildung niemals in Gänze erreichbar sein. Aber bei allen Problemen, die der deutsche Föderalismus mit seinen 16 minimal unterschiedlichen Bildungssystemen mit sich bringt, liefert er auch eine Chance. Bundesländer und manchmal auch einzelne Regionen können sich anhand ihrer Geschichte ein kleines bisschen spezialisieren, sei es mit einem Prüfungsfach Plattdeutsch oder der Möglichkeit, im Sportabi die Pferdesportart Voltigieren zu belegen.

Dass dabei niemand ein Abitur ablegt, für das er oder sie nur in Spezialfächern geprüft wird, dafür sorgen die Prüfungsordnungen. Die sind in allen Ländern recht ähnlich. Die Kernbereiche - Naturwissenschaften, Sprachen, Gesellschaftswissenschaften und so weiter - müssen abgedeckt sein. Innerhalb dieser Bereiche haben manche Schüler etwas mehr, andere etwas weniger Gestaltungsspielraum. Und in Mathe, Deutsch, Englisch, Französisch lösen ab diesem Jahr Schüler von Kiel bis München eventuell die gleichen Aufgaben. So können Vergleichbarkeit und Spezialisierung deutschlandweit funktionieren.

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