Gymnasien:"Wir müssen uns klar werden, was wir wollen"

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Die neue Vorsitzende des Philologenverbands Susanne Lin-Klitzing erklärt, wo sie die Zukunft des Gymnasiums sieht.

Interview Von Paul Munzinger

SZ: Sie sind die erste Frau an der Spitze des Philologenverbands. Bedeutet Ihnen das etwas?

Susanne Lin-Klitzing: Für mich fühlt es sich normal an. Für den Verband ist es tatsächlich ein Novum, aber vor allem eine Chance. Seit dem Schuljahr 2003/04 ist die Mehrzahl der Lehrkräfte an Gymnasien weiblich, die Quote steigt. Insofern ist es ein gutes Zeichen, wenn jetzt auch mal an der Spitze eine Frau steht.

Ihr Vorgänger Heinz-Peter Meidinger blieb trotz Verbandstätigkeit Schulleiter. Sie werden den Vorsitz hauptamtlich übernehmen, an der Schule unterrichten Sie seit Jahren nicht mehr. Wie weit darf die oberste Gymnasiallehrerin im Land von der Praxis entfernt sein?

Ich bin seit 2000 keine Lehrerin mehr, das ist korrekt, aber ich bin Ausbilderin von Gymnasiallehrern. Ich bin also in der Praxis, ich unterrichte - nur eben keine Schüler, sondern Studierende.

Nach Ihrer Wahl vor zwei Wochen haben Sie sich als erstes mit Kritik an der Lehrerfortbildung in Deutschland zu Wort gemeldet. Was läuft denn schief?

Lehrer brauchen Fortbildungen, so wie andere Berufe auch. In der Realität aber kommen sie aus dem Unterrichtsalltag häufig nicht raus. Und wenn doch, dauern viele Fortbildungen nur einen halben Tag, obwohl wir wissen, dass das wenig bringt. Es muss möglich sein, dass Lehrer auch länger freigestellt werden, ohne dass gleich der Unterricht ausfällt. Das bedeutet, dass die Schulen immer mit ausreichend Personal versorgt sein müssen. Und wichtig ist auch, dass die Fortbildungen von Wissenschaftlern begleitet werden. Wir wissen noch viel zu wenig, was wirklich wirkt. Das ist ein ganz großes Defizit.

Gilt das auch für die viel diskutierte Digitalisierung in der Bildung?

Zunächst müssen wir uns klar werden, was wir wollen. Wir brauchen ein vernünftiges Verhältnis zur Digitalisierung auch im Schulbereich, aber mit dem Begriff "digitale Bildung" kommen wir nicht weiter. Bildung ist ein selbstreflexiver Vorgang: Wie verhalte ich mich zu mir selber oder zu meiner Umwelt? Diesen Vorgang kann mir keine digitale Datenbank abnehmen. Was wir den Schülern vermitteln müssen, ist ein selbstbestimmter Umgang mit der digitalen Welt. Das ist eine vierte Kulturtechnik, so wie Lesen, Schreiben und Rechnen.

Das heißt konkret?

Das bedeutet nicht, dass jeder Schüler programmieren lernen muss. Es bedeutet, dass die Schüler lernen müssen, wie das Netz funktioniert und was Algorithmen sind. Sie müssen verstehen, warum zwei Personen, die das gleiche Wort bei einer Suchmaschine eingeben, unterschiedliche Ergebnisse bekommen. Dafür muss sich zunächst die technische Ausstattung der Schulen verbessern. Einen selbstbestimmten Umgang können Schüler nur lernen, wenn WWW an den Schulen nicht mehr für "Warten, Warten, Warten" steht.

In Frankreich sollen Schüler bis 15 Jahre künftig kein Handy mehr in der Schule nutzen dürfen. Eine gute Idee?

Das müssen die Schulen selbst entscheiden. Manche könnten durchaus sagen: Das kommt bei uns nur auf dem Pausenhof in Frage oder erst ab einem bestimmten Alter. Ein echter Fortschritt aber wäre es, wenn alle Schulen mit "Mobile-Device-Management"-Systemen ausgestattet sind. Die sorgen dafür, dass die mitgebrachten Geräte nur auf bestimmte Daten zugreifen können. Die Schüler könnten also nicht mehr chatten, aber die Handys funktional im Unterricht einsetzen.

Der Wiener Professor Konrad Paul Liessmann sagte auf dem jüngsten Philologentag, die Zukunft des Gymnasiums liege "in der Praxisferne". Hat er recht?

Ich mag diesen Satz nicht, weil er missverstanden werden könnte. Das Gymnasium ist heute nicht mehr die einzige Schulform, die zum Abitur führt. Es hat sein Monopol eingebüßt. Ich würde daraus zwei Konsequenzen ziehen: Erstens muss sich das Gymnasium als Gymnasium profilieren. Der klare Auftrag heißt: Wissenschaftspropädeutik, Studierfähigkeit, vertiefte Allgemeinbildung. Es geht darum, Schüler auf einem hohen kognitiven Niveau zu befähigen, für sich selbst, für ihr Umfeld und für die Welt Verantwortung zu übernehmen. Dieser Auftrag ist weniger praktisch als etwa an der Realschule, aber er kann schlechterdings nicht Praxisferne bedeuten.

Und zweitens?

Zweitens müssten auch die Abiturnoten abbilden, dass für das gleiche Ergebnis an einem Gymnasium mehr getan werden muss als etwa an einer Gesamt- oder Gemeinschaftsschule. Das geht nur durch eine stärkere Vergleichbarkeit der Leistungen. Hier wäre noch viel mehr möglich.

Nämlich?

Um das Abitur vergleichbarer zu machen, haben wir uns bisher auf die Prüfungen beschränkt. Die machen aber nur ein Drittel der Note aus, zwei Drittel entfallen auf die Leistungen der Oberstufe, wo die Anforderungen sehr auseinandergehen. Wir sollten darüber nachdenken, auch hier die Vergleichbarkeit zu erhöhen - oder die Abiturprüfungen stärker zu gewichten.

© SZ vom 18.12.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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