Gewalttat in Lünen:Kann ein Kind "unbeschulbar" sein?

Unterrichtsausfall

Kein Lehrer oder Schulleiter kann und darf sich eines schwierigen Schülers einfach so entledigen.

(Foto: picture alliance / dpa)
  • Die zuständige Schulsozialarbeiterin beschreibt den mutmaßlichen Täter von Lünen als "aggressiv und unbeschulbar".
  • Im Schulgesetz gibt es diesen Begriff nicht.
  • Schulen und Behörden versuchen prinzipiell, jedem Kind den Schulbesuch zu ermöglichen.

Von Matthias Kohlmaier

Viel ist noch nicht bekannt über die schreckliche Tat an der Gesamtschule im nordrhein-westfälischen Lünen, bei der ein 15-Jähriger einen 14-jährigen Mitschüler erstochen haben soll. Aus Bildungsperspektive verwirrt dabei ein Begriff: "Nach Einschätzung der Sozialarbeiterin gilt der 15-Jährige als aggressiv und unbeschulbar...", hat die Polizei nach ersten Ermittlungen mitgeteilt.

Was also heißt "unbeschulbar"? Schließlich gilt in Deutschland die Schulpflicht, ein Kind von ihr zu entbinden, ist per Gesetz nur in äußersten Ausnahmefällen möglich. Im Klartext: Kein Lehrer oder Schulleiter kann und darf sich eines schwierigen Schülers einfach so entledigen. Der Begriff "unbeschulbar" findet sich daher auch nicht im Schulgesetz von Nordrhein-Westfalen wieder. Dort ist vom "Ruhen der Schulpflicht" die Rede, unbeschulbar soll kein Kind sein.

Gibt es Probleme mit einem Kind, versuchen die Lehrkräfte erst einmal, mit geeigneten Erziehungsmaßnahmen gegenzusteuern, etwa Ermahnungen, Nacharbeiten (nach Benachrichtigung der Eltern) oder, wie es im NRW-Schulgesetz in bester Behördensprache heißt, "Maßnahmen mit dem Ziel der Wiedergutmachung angerichteten Schadens".

Hilft all das nichts, folgt die zweite Strafenkategorie: Ordnungsmaßnahmen. Diese lauten in aufsteigender Reihenfolge:

  • der schriftliche Verweis,
  • die Überweisung in eine parallele Klasse oder Lerngruppe,
  • der vorübergehende Ausschluss vom Unterricht von einem Tag bis zu zwei Wochen und von sonstigen Schulveranstaltungen,
  • die Androhung der Entlassung von der Schule,
  • die Entlassung von der Schule,
  • die Androhung der Verweisung von allen öffentlichen Schulen des Landes durch die obere Schulaufsichtsbehörde,
  • die Verweisung von allen öffentlichen Schulen des Landes durch die obere Schulaufsichtsbehörde.

Zum vorübergehenden Ausschluss vom Unterricht oder gar zum endgültigen Schulverweis kommt es laut Schulgesetz erst, "wenn die Schülerin oder der Schüler durch schweres oder wiederholtes Fehlverhalten die Erfüllung der Aufgaben der Schule oder die Rechte anderer ernstlich gefährdet oder verletzt hat". Selbst dann darf aber die Schule nicht alleine entscheiden, sondern muss sich den Schritt von der Schulaufsichtsbehörde absegnen lassen. Den endgültigen Verweis von allen Schulen des Bundeslandes muss sogar das Schulministerium genehmigen.

"Irgendwann muss reagiert werden"

Fragt man dort nach, heißt es jedoch, diese Maßnahme werde quasi nie ergriffen. Dass Kinder gar nicht mehr am Unterricht teilnehmen könnten, geschehe eher in Ausnahmefällen im Förderschulbereich. "Grundsätzlich gilt für ausnahmslos alle Schüler die Schulpflicht und es ist Aufgabe des Landes, sicherzustellen, dass alle Kinder zur Schule gehen können", sagt Ministeriumssprecher Daniel Kölle. "Dafür müssen bei Bedarf entsprechende unterstützende Maßnahmen ergriffen werden."

Dennoch gebe es auch außerhalb von Förderschulen Fälle, in denen Schulen und Behörden sich für ein Ruhen der Schulpflicht entschieden, sagt Dorothea Schäfer, NRW-Vorsitzende der Lehrergewerkschaft GEW. Manchmal sei dieser Schritt unausweichlich. "Wenn eine Schule alles versucht hat, vom Elterngespräch bis zu verschiedenen Ordnungsmaßnahmen, und die Situation bessert sich nicht, muss irgendwann reagiert werden", sagt Schäfer. Schließlich habe die Schule eine Verantwortung gegenüber den anderen Schülern. Könne man ein Kind trotz Unterstützung partout nicht in die Schule integrieren, sei Hausunterricht eine mögliche Lösung.

Schüler aus Lünen sollte vorübergehend eine andere Schule besuchen

Um es im Fall des 15-Jährigen aus Lünen nicht so weit kommen zu lassen, griff die Schule ein. Damit es nämlich gar nicht zum möglichen Schulausschluss kommt, bespricht die Schulleitung gewöhnlich mit den Eltern betroffener Kinder schon lange Zeit vorher, wie sich eine womöglich schwierige Situation lösen ließe. Eine Option ist, das Kind zumindest vorübergehend einer neuen Schule zuzuweisen, um neue Impulse zu setzen. Dafür berät die Schule mit der zuständigen Schulaufsichtsbehörde und dem Jugendamt, welche andere Schule für das Kind geeignet sein könnte. Ist diese gefunden, wird sie umfassend über den neuen Schüler informiert und nimmt ihn auf.

Laut Mitteilung der Polizei sollte auch der mutmaßliche Täter von Lünen vorübergehend von anderen Lehrern und mit anderen Jugendlichen zusammen unterrichtet werden. Der Schüler und die aufnehmende Schule kamen allerdings nicht miteinander aus. Am Dienstag sollte daher bei einem Termin mit der Schulsozialarbeiterin über eine mögliche Rückkehr des 15-Jährigen an die Käthe-Kollwitz-Gesamtschule gesprochen werden.

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