Gewaltprävention:"Man kann die Lehrer nicht damit alleinlassen"

Gewaltprävention: Herbert Scheithauer, 46, ist Professor für Entwicklungs- und klinische Psychologie an der FU Berlin. Er erforscht aggressiv-dissoziales Verhalten.

Herbert Scheithauer, 46, ist Professor für Entwicklungs- und klinische Psychologie an der FU Berlin. Er erforscht aggressiv-dissoziales Verhalten.

(Foto: Babane Design)

Wenn Schulen sich vor Amokläufen schützen wollen, brauchen sie Expertenhilfe bei der Risiko-Früherkennung.

Interview von Susanne Klein

Die Amokläufe von Erfurt und Winnenden haben sich ins kollektive Gedächtnis eingebrannt. Im Juli erschoss der Schüler David S. neun Menschen in München. Schwere zielgerichtete Gewalt, durch junge Menschen in Schulen oder im öffentlichen Raum verübt, ist ein Spezialgebiet des Psychologen Herbert Scheithauer. Ein Gespräch über Risiko-Erkennung und Prävention - und die Notwendigkeit, dafür mehr Geld auszugeben.

SZ: Mehr als 20 deutsche Schulen haben am vergangenen Montag E-Mails mit Gewaltandrohungen erhalten, in denen der tote Terrorverdächtige Dschaber al-Bakr erwähnt wurde. Ist Terror ein neues Bedrohungsszenario an Schulen?

Herbert Scheithauer: Es gab schon immer Terror, in den 70er-Jahren beispielsweise viel häufiger als heute, und es gibt schon lange Gewalttaten an Schulen. Aber der Radikalisierungshintergrund im Schulkontext ist schon ein neues Phänomen. Das wird sicherlich auch zukünftige Androhungen und Taten beeinflussen und damit auch die Einschätzung, was als gefährlich gelten muss.

Hat Sie das als Forscher überrascht?

Wir haben lange sehr in Schubladen gedacht: School Shootings als Phänomen, Vorfälle in Familien, Fälle mit terroristisch radikalisiertem Hintergrund. Bei den Tat- und Fallanalysen für das Projekt "Target", das bis Juni 2016 lief, haben wir aber festgestellt, dass es sehr viele Ähnlichkeiten in der Entwicklung hin zu einer Tat gibt. Wir haben Fälle mit Radikalisierungshintergrund beobachtet, die denen von School Shootern sehr ähnlich sind.

Wie bei dem Amoklauf des Schülers David S. am 22. Juli in München?

Ja, auch da kann man feststellen, dass die Grenzen verschwimmen. Heute tauchen in den Medien Taten mit Radikalisierungshintergrund auf, an denen sich die aktuellen Täter orientieren. Wir haben nicht mehr den ausschließlich auf Schule konzentrierten Täter, sondern den mit beispielsweise islamistischem oder islamfeindlichem Hintergrund, der trotzdem in der Schule eine Tat begehen will. Oder eben den, der wirkt wie ein Täter aus dem Schulkontext, aber plötzlich im öffentlichen Raum eine Tat begeht.

Wie reagieren Sie auf diese Entwicklung?

Wir haben beispielsweise unser Präventionskonzept "Netwass" noch besser auf die neuen Gefahren abgestimmt. Wir sind fest davon überzeugt, das Programm nun auch sehr gut zur Früherkennung von sich radikalisierenden Jugendlichen im Schulkontext verwenden zu können.

Ihr Programm soll Schulen helfen, Gewalttaten von Schülern durch strukturierte Risikoanalysen und Handlungskonzepte vorzubeugen. Es wurde mit 1,18 Millionen Euro vom Bundesbildungsministerium gefördert. Wo wird es heute angewendet?

Es ist leider nie zu einer richtigen flächendeckenden Verwertung gekommen, obwohl wir weltweit eins der wenigen, positiv evaluierten Programme in dem Bereich sind. Etliche Schulen sagen, dass sie bei ihrer Krisenprävention mit "Netwass"-Methoden arbeiten. Nachgeprüft ist das aber nicht. Wir haben festgestellt, dass in vielen Bundesländern kein fachgerecht bewertetes, also wirksamkeitsevaluiertes Programm, sondern etwas Selbstgestricktes angewendet wird.

Dabei wurde Ihre Methode an mehr als 100 Schulen mit rund 5000 Lehrern und 30 000 Schülern erprobt und verfeinert.

Ich frage mich schon lange, warum in deutschen Schulen und Kindergärten eher nicht wirksamkeitsgeprüfte Maßnahmen stattfinden. Die am weitesten verbreiteten Anti-Mobbing-Programme beispielsweise sind schlecht oder gar nicht evaluiert.

Wie würden Sie es sich denn wünschen?

Ich wünsche mir mehr Bewusstsein für Qualität. Dass nicht nur Projekte entwickelt und danach Broschüren verteilt werden. Das funktioniert nicht. Wenn man neue Strategien nicht erprobt, dauerhaft lebt und ihre Qualität sichert, verlaufen sie im Sande. Ich wünsche mir also, dass gut evaluierte Krisenpräventionsprogramme in Schulen grundsätzlich stattfinden. Das müsste natürlich finanziert werden, etwa durch Töpfe auf Länderebene.

Bis es so weit ist: Was kann ein Lehrer von sich aus tun, um Gewalt vorzubeugen?

Auf Hinweise achten und ihnen nachgehen. Hat ein Schüler Tatfantasien, droht er mit Gewalt? Malt er ein Bild, das die Erschießung einer Mitschülerin darstellt? Interessiert er sich stark für Waffen, Amokläufe oder Kriege? Auch wenn ein Schüler plötzlich in langen, schwarzen Mänteln in die Schule kommt, kann das ein Zeichen sein. Früher wurde vieles als dummer Jungenstreich abgetan, was man heute ernst nehmen und im Zweifel mit dem schulpsychologischen Dienst besprechen sollte.

Wie können Schüler helfen?

Man muss ihnen sagen, dass es kein Petzen ist, wenn sie Auffälligkeiten mitteilen. Dass Schüler den Code of Silence durchbrechen, geschieht aber eher, wenn sie eine sehr positive Beziehung zu ihrem Lehrer haben. Oder mit Schulsozialarbeitern sprechen können, die ihnen keine Noten geben.

Was raten Sie Eltern, die Angst um die Sicherheit ihrer Kinder haben?

Sicher fürchten viele Eltern aufgrund der intensiven Berichterstattung, Schulen seien unsichere Orte. Das ist aber nicht der Fall. Massive Gewaltanwendung an Schulen kommt sehr, sehr selten vor. Aber natürlich sollte ich mich als Elternteil erkundigen: Gibt es ein gutes Gewaltpräventionskonzept an der Schule, eine gute Kooperation mit Schulpsychologen? Welche Strategie greift, wenn sich ein Schüler krisenhaft entwickelt? Wenn die Antworten enttäuschen, kann ich vielleicht über die Elternschaft erwirken, dass mehr getan wird.

Sind Lehrer mit der Früherkennung nicht überfordert? Schließlich können sie nicht auch noch überprüfen, was ihre Schüler in den sozialen Medien treiben.

Man kann die Lehrer nicht damit alleinlassen. Deshalb setzt "Netwass" ja auf Netzwerke: Lehrer, Psychologen, Sozialarbeiter, Polizisten. Wir hatten in der Erprobungsphase Schüler mit einer ganzen Reihe von Auffälligkeiten, ohne zu wissen, begeht jetzt einer eine Tat oder nicht. In diesen Fällen haben wir sofort die Polizei und den schulpsychologischen Dienst einbezogen, sowie Fachkräfte, die sich mit Bedrohungsanalysen auskennen.

Heißt das, Sie konnten konkrete Gefahr abwenden?

Wir würden es so interpretieren. Ein Beispiel: Wir wurden auf einen Schüler mit suizidalen Tendenzen aufmerksam. Es gab dann eine psychiatrische Unterbringung, später ging der Schüler wieder ganz normal zur Schule. Natürlich wissen wir nicht, was geschehen wäre, wenn wir keine Maßnahmen ergriffen hätten.

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