Gewalt an Schulen:Tritt vors Schienbein, Schlag in die Magengrube

Verzweifelte Lehrerin im Klassenzimmer Radevormwald 18 02 2013 Gestelltes Bild Radevormwald Deut

Kommt es zu Gewalt im Klassenzimmer, haben viele betroffene Lehrkräfte den Eindruck, versagt zu haben.

(Foto: imago/photothek)

Gewalt gegen Lehrkräfte kommt an vielen Schulen vor. Gerhard Brand vom Verband Bildung und Erziehung erklärt, warum Lehrer wie Polizisten wahrgenommen werden sollten.

Interview von Matthias Kohlmaier

In den vergangenen fünf Jahren sind an fast jeder zweiten Schule Deutschlands Lehrkräfte beleidigt oder bedroht worden, an jeder fünften Schule gab es Fälle von Cyber-Mobbing gegen sie und an 26 Prozent der Schulen wurden Lehrkräfte körperlich attackiert. Das geht aus einer Umfrage unter Schulleitern hervor, die der Verband Bildung und Erziehung (VBE) in Auftrag gegeben hat.

Bereits 2016 hatte der VBE eine ähnliche Befragung durchgeführt, damals unter den Lehrkräften selbst. Die Ergebnisse unterscheiden sich kaum von denen der aktuellen Studie. Gerhard Brand, Landesvorsitzender des VBE Baden-Württemberg, hofft nun, dass das Problem auf politischer Ebene endlich ernster genommen wird.

SZ: Herr Brand, zuletzt hat der VBE vor zwei Jahren eine Umfrage zum Thema Gewalt gegen Lehrkräfte initiiert. Hat sich seitdem etwas positiv verändert?

Gerhard Brand: Erfreulich finde ich, dass heute ein deutlich geringerer Teil der Befragten Gewalt gegen Lehrkräfte als Tabuthema wahrnimmt als noch 2016. Dennoch: Als der VBE für die Berichterstattung zur aktuellen Umfrage an Schulen und bei Lehrkräften angerufen und darum gebeten hat, dass sie vor der Kamera etwas dazu sagen, kamen nur Absagen. Betroffene scheuen die Öffentlichkeit.

Woran liegt das?

Offenbar will keine Schule als diejenige dastehen, an der es Probleme mit Gewalt gibt. Denn wer würde seine Kinder dann noch dorthin schicken wollen. Dazu kommt, dass in der Vergangenheit oftmals der Rückhalt aus den Behörden gefehlt hat, wenn Lehrkräfte tatsächlich tätlich angegriffen wurden. Viele dieser Fälle verlaufen im Sand.

Liegt das in gewisser Weise auch an den Lehrkräften selbst?

Das ist auf jeden Fall ein Faktor. Damit Unterricht gelingen kann, ist eine positive Beziehung zwischen Lehrern und Schülern wichtig. Kommt es zu Gewalt im Klassenzimmer, haben viele betroffene Lehrkräfte den Eindruck, versagt zu haben. Von Eltern wird oft noch das Gefühl vermittelt, dass das Problem natürlich nicht beim Kind liege und dass im Unterricht ja ohnehin viele Dinge anders laufen müssten. Kollegen in so einer Situation gehen viel zu selten zur Schulleitung und bitten um Hilfe. Ich finde hier den Vergleich zwischen Lehrkräften und Polizisten ganz erhellend.

Wie meinen Sie das?

Wenn ein Polizist angegriffen und womöglich sogar verletzt wird, gilt er als Held, der sich in den Dienst der Gesellschaft stellt. Passiert das einem Lehrer, steht er als Versager da, der seine Klasse nicht im Griff hat. Da braucht es dringend ein Umdenken.

Sie finden, dass Lehrkräfte von der Gesellschaft zu wenig geschätzt werden?

Manchmal ja. Zur Schule ist schließlich jeder mal gegangen; viele Eltern meinen, dass sie deswegen den Job besser könnten. Sie glauben gar nicht, was teilweise in Sprechstunden für Ratschläge von Eltern kommen. Wobei das eigentlich weniger Ratschläge, sondern fast schon Anweisungen sind - immer mit dem Fokus auf das eigene Kind. Dass in so einer Klasse noch 25 andere Kinder sitzen, daran denken viele Eltern nicht. Trotzdem ist es natürlich Aufgabe der Schulen, die Eltern im Sinne der Erziehungspartnerschaft einzubeziehen. Das klappt bei manchen besser und bei anderen nicht so gut.

"Wenn die Eltern nicht mitziehen, kann die Schule wenig ausrichten"

Sie haben angedeutet, dass viele Schüler nicht oder kaum belangt werden, wenn sie eine Lehrkraft attackieren. Wie kann das sein?

Häufig zeigen solche Schüler sich vollkommen uneinsichtig und werden von ihren Eltern darin noch bestärkt. Der Schule stehen dann eine Reihe von Erziehungs- und Ordnungsmaßnahmen zur Verfügung, hier in Baden-Württemberg regelt das der Paragraf 90 im Schulgesetz. Das beginnt mit Nachsitzen - was aber sehr gut begründet sein muss, sonst ist es Freiheitsberaubung - und endet beim Schulausschluss. Wenn betroffene Schulen sich darüber hinaus Hilfe bei zuständigen Behörden holen wollen, müssen sie sich mit extrem umfangreichen bürokratischen Abläufen und vielen Widerständen auseinandersetzen.

Können Sie das an einem konkreten Beispiel erklären?

Eine von Schülern und Kollegen sehr respektierte Lehrerin an einer ehemaligen Schule von mir hat vor Jahren im Unterricht einen Jungen zurechtgewiesen, weil er unablässig gestört hat. Ich spreche hier von einer fünften Klasse, die Kinder waren also zehn, elf Jahre alt. Nach der Stunde hat der Junge vor dem Klassenzimmer auf die Kollegin gewartet, ihr erst einen Tritt vors Schienbein und dann einen Schlag in die Magengrube versetzt. Die Kollegin meldete das der Schulleitung, die bestellte sofort die Eltern des Jungen zum Gespräch ein.

Befragung von Rektoren zu Gewalt gegen Lehrer

Gerhard Brand, VBE-Landesvorsitzender von Baden-Württemberg

(Foto: picture alliance / Sina Schuldt/)

Wie haben die reagiert?

Sein Vater kam tatsächlich in die Schule - und rechtfertigte das Verhalten seines Sohnes auf ganzer Linie. Weitere Maßnahmen erfolgten nicht.

Warum?

Wenn die Eltern nicht mitziehen, kann die Schule wenig ausrichten. Natürlich hätte man den Jungen zeitlich begrenzt vom Unterricht ausschließen oder sogar der Schule verweisen können. Aber da kommt die pädagogische Komponente ins Spiel. In dem Fall ging es um ein Kind, das ohnehin schon große Wissenslücken gegenüber den Klassenkameraden angesammelt hatte. Im schlechtesten Fall kommt der Schüler nach einer Woche Schulausschluss wieder, hat eine Menge Unterricht versäumt und wird von manchen Klassenkameraden auch noch als Held gefeiert. Diese Bühne wollten wir ihm nicht geben.

Wenn Gewaltprobleme an Schulen so individuell zu lösen sind, kann der Staat dann überhaupt unterstützend eingreifen?

Es wäre viel gewonnen, wenn vom Gesetzgeber ein klares Statement käme, dass er im Zweifelsfall hinter den Schulen und Lehrkräften steht. Als der VBE vergangenen September in den Kultusministerien nachgefragt hat, hieß es, Gewalt gegen Lehrkräfte komme doch nur in Einzelfällen vor - in den Ministerien werden dazu aber gar keine Zahlen erhoben. Betroffene Lehrerinnen und Lehrer kommen sich da zu recht alleingelassen vor.

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