Geschlechterdebatte in der Schule:"Mädchen machen sich gegenseitig Druck"

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Mädchen werden von ihren Eltern "darin bestärkt, geduldig zu sein und sich konform zu verhalten", sagt Psychologin Elisabeth Raffauf. Das hilft ihnen in der Schule.

(Foto: dpa)

Angepasst bis zur Selbstaufgabe: Um das neue starke Geschlecht muss man sich bisweilen sorgen, findet die Psychologin Elisabeth Raffauf. Deshalb hat sie ein "Mädchenbuch" geschrieben. Ein Gespräch über Perfektionszwang, geschlechterstereotype Erziehung und die beste Freundin.

Von Johanna Bruckner

Es gab Zeiten, da wollte Elisabeth Raffauf lieber ein Junge sein. Sie hatte das Gefühl: Jungen dürfen wilder sein. Später dann, als werdende Mutter, wünschte sich die Diplom-Psychologin ein Mädchen. Tochter Jana und die vielen Mädchen, die ihr privat und beruflich begegnen, haben sie dazu inspiriert, einen sehr speziellen Eltern-Ratgeber zu schreiben: "Das Mädchenbuch" (erschienen im Beltz Verlag). Hauptberuflich arbeitet Raffauf in einer Erziehungsberatungsstelle in Köln.

SZ.de: Frau Raffauf, warum braucht es heute immer noch ein "Mädchenbuch"?

Elisabeth Raffauf: Es braucht heute wieder ein Mädchenbuch. In den letzten Jahren hat sich die gesellschaftliche und bildungspolitische Diskussion auf die Jungen konzentriert: Wie hilft man ihnen durch die Pubertät, während sie von allen Seiten mit Sexualität bombardiert werden? Wie kann man verhindern, dass Jungen in der Schule immer weiter zurückfallen? Ich will mit meinem Buch nicht sagen, dass es den Mädchen furchtbar schlecht geht. Aber manchen geht es eben auch nicht so gut, wie es von außen den Anschein hat.

Wie meinen Sie das?

Von außen wirkt es häufig so, als müsste man sich um die Mädchen keine Sorgen machen. Sie sind gut in der Schule, machen ihren Eltern seltener Schwierigkeiten, achten auf ihr Äußeres. Doch Mädchen stehen heute gerade in der Pubertät unter einem unheimlichen Perfektionsdruck. Früher war es so: Mädchen mussten schön sein und Jungen cool. Heute sollen Mädchen schön und cool sein; Jungen nicht nur lässig, sondern auch einfühlsam und gepflegt. Manches Mädchen zerbricht innerlich daran, in allem brillieren zu müssen. Essstörungen sind besonders unter weiblichen Jugendlichen verbreitet - wobei eine Erkrankung längst nicht immer so offensichtlich ist wie bei Magersucht.

Aber dass sich Geschlechterrollen ändern, ist doch auch eine Chance für Mädchen.

Klar ist es toll, wenn Geschlechterklischees aufbrechen. Aber nicht alles, was gut gedacht ist, wird auch gut umgesetzt. So wird Jungen heute vermittelt: Es ist okay, auch mal zu weinen. Andererseits werden Mädchen dazu angehalten, sich Tränen zu verkneifen, wenn sie ernstgenommen werden und sich durchsetzen wollen. Das ist doch paradox! Es sollte nicht darum gehen, dass Mädchen werden wie Jungen - oder umgekehrt. Beide Geschlechter sollten lernen, ihren eigenen Empfindungen und Wünschen zu trauen und ihnen auch nachzugehen.

Warum schreiben Mädchen Ihrer Meinung nach bessere Noten?

Das hat sicher mehrere Gründe. Biologische Faktoren spielen eine Rolle, aber auch die Erziehung. Mädchen werden häufig angepasster erzogen. Das zeigt sich in alltäglichen Dingen. Sie werden von klein auf - und sehr viel konsequenter als Jungen - dazu angehalten, ihr Zimmer aufzuräumen, und darauf zu achten, dass alles hübsch aussieht. Sie werden darin bestärkt, geduldig zu sein und sich konform zu verhalten. Das kommt ihnen in der Schule zugute. Mädchen bemühen sich um eine schöne Schrift, haben sauber geführte Hefte und machen, was von ihnen verlangt wird. Das wird von den Lehrern honoriert. Natürlich gibt es heute auch Mütter, die versuchen, gezielt gegenzusteuern. Aber viele sind eben auch noch sehr geprägt durch ihre eigene Erziehung. Das trägt unter anderem dazu bei, dass Mädchen perfekt durchs System Schule laufen.

Aber sind sie auch gut aufs Leben vorbereitet?

Das ist das Problem: Sich auf die schulischen Herausforderungen perfekt einstellen zu können, ist Fluch und Segen zugleich. Segen, weil Mädchen mit dieser Fähigkeit in der Regel gut durchkommen bis zum Abschluss. Fluch weil sie nicht lernen, den Mund aufzumachen und ihren eigenen Kopf durchzusetzen. Im Gegenteil, sie erhalten Bestätigung fürs Angepasstsein.

"Geschlechterstereotypes Verhalten kann hilfreich sein"

Ist die Emanzipation also an der elterlichen Erziehung weitgehend vorbeigegangen?

Ich glaube, viele Eltern denken gar nicht so weit. Ihnen geht es nicht in erster Linie darum, ihre Kinder im Sinne einer gleichberechtigten Gesellschaft aufwachsen zu lassen. Sie wollen ihre Söhne und Töchter so erziehen, dass sie gut durchs Leben kommen. Sie versuchen, ihnen das zukommen zu lassen, von dem sie denken, dass sie es brauchen. Mädchen wird zum Beispiel häufiger vorgelesen, was sich positiv auf ihre spätere Lesefähigkeit auswirkt. Und bisweilen kann geschlechterstereotypes Verhalten sogar hilfreich sein: Die Gewissheit, einem Geschlecht zuzugehören, gibt Sicherheit. Wenn Mädchen diese Sicherheit als Kinder haben, können sie ihre Sexualität später selbstbestimmter leben.

Gutes Stichwort. Die Schule ist zum Ort geworden, an dem heranwachsende Mädchen ihre Weiblichkeit austesten: Unter dem Spaghettiträger-Top blitzt der Push-up-BH und die Shorts bedecken gerade den Hintern. Viele Lehrer fühlen sich damit überfordert.

Verständlicherweise. Sie wollen den Schülerinnen ja nicht zu nah treten. Es ist an den Eltern, hier einzugreifen - Lehrer können nur auf die Problematik aufmerksam machen.

Wie sollten Eltern das Thema ansprechen?

Junge Mädchen, die mit weitem Ausschnitt oder kurzen Shorts losziehen, wollen sich ausprobieren. In vielen Fällen ist ihnen nicht klar, wie sie möglicherweise auf Jungen und Männer, auf ihre Mitschüler und Lehrer wirken. Es ist die Aufgabe der Eltern ihnen das klar zu machen - allerdings ohne ihnen einen Vorwurf daraus zu machen, dass sie sich ausprobieren wollen. Aber dafür gibt es andere Orte, zum Beispiel die Geburtstagsparty mit Gleichaltrigen. Unter Umständen müssen Eltern auch mal ganz klar sagen: "Ich möchte nicht, dass du so losgehst." Dieses Verbot soll die Mädchen nicht gängeln, sondern sie schützen. Auch das sollten Eltern ihren Töchtern vermitteln.

Ist geschlechtergetrennter Unterricht, etwa in Sport oder den Naturwissenschaften, aus Ihrer Sicht sinnvoll?

Beide Varianten haben Vorteile. Im gemischten Unterricht lernen Mädchen, wie Jungen sind, wie sie denken und wie sie mit ihnen umgehen. Im geschlechtergetrennten Unterricht trauen sich manche Mädchen mehr, melden sich eher auch mal in Fächern, in denen sie nicht gut sind. Andere wiederum empfinden den Druck der Geschlechtsgenossinnen, das Beobachtet- und Bewertetwerden, als höher.

Es gibt aber nicht nur Konkurrenz unter Mädchen. Für viele Teenager ist die beste Freundin das Allerwichtigste.

Die beste Freundin ist so eine Art Übergangsobjekt. Mädchen können mit ihr ausprobieren, wie Beziehung geht. Wenn Mädchenfreundschaften zerbrechen, wird das von den Betroffenen häufig wie Liebeskummer empfunden. Eltern sollten in solchen Fällen vor allem Trost spenden. Manchmal hilft es, die Tochter darauf aufmerksam zu machen, dass auch andere in der Klasse keine unverbrüchlichen Freundschaften haben. Dann wird sie das Zerwürfnis weniger als persönliches Versagen wahrnehmen. Eltern sollten diese Gelegenheit nutzen, ihre Töchter zu ermutigen, Probleme in Freundschaften und anderen Beziehungen anzusprechen.

Wenn Sie Mädchen etwas wünschen könnten, dann ...?

... dass sie sich zugestehen, auch mal nicht perfekt zu sein, und es sich nicht so zu Herzen nehmen, wenn nicht jeder sie immer mag. Um ihrer selbst willen.

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