Geplante Gymnasialreform:G9 als Segen und Fluch

Gymnasium

Während die einen sich noch über das voraussichtliche Ende von G8 freuen, sehen die anderen große Probleme bei der Umstellung auf G9.

(Foto: dpa)

In den letzten Monaten schien die G9-Bewegung nichts stoppen zu können. Auf einmal aber regt sich Widerstand. Denn die Gymnasien stellt das zusätzliche Jahr vor große Herausforderungen und Bildungsexperten warnen: Die Abkehr vom verhassten G8 löst nicht die Probleme.

Von Roland Preuß und Johann Osel

Ralph Hartung unterrichtet Mathematik, und das war sicher hilfreich. "Wir mussten für die Anfänger einmal die komplette Schullaufbahn durchrechnen, inhaltlich und organisatorisch", sagt er. Sein Gymnasium, die Goetheschule im hessischen Neu-Isenburg, bietet nun wieder das Abitur nach neun Jahren an, kurz G9. Im August haben die ersten Fünftklässler damit angefangen. Hessens Regierung hat den Schulen die Wahl gelassen, sich vom bisher üblichen Abitur nach acht Jahren zu verabschieden. Dutzende Gymnasien haben das getan. In Neu-Isenburg wird, wenn die jetzigen Sechstklässler ihren Abschluss in der Tasche haben, das "Turbo-Abitur" ein Kapitel fürs bildungspolitische Geschichtsbuch sein.

In dem Kapitel müsste dann auch etwas über den Aufwand dieser Wende stehen. Hinter Rektor Hartung und seinen Lehrern liegt, so erzählt er, "ein halbes Jahr, das es in sich hatte". Prognosen wurden angestellt, neue Stundentafeln und Konzepte erdacht, unzählige Sitzungen abgehalten. Es war, als gelte es einen Konzern umzustrukturieren.

Der Umbruch in hessischen Gymnasien lässt ahnen, was bundesweit auf viele Schulen bald zukommen könnte. Seitdem das rot-grün regierte Niedersachsen Mitte März angekündigt hat, flächendeckend zum G9 zurückzukehren, verläuft die Debatte auch in anderen Bundesländern hitziger denn je: In Hamburg hat die Volksinitiative "G9-Jetzt-HH" ihre Gespräche mit dem SPD-Senat abgebrochen und steuert auf ein Volksbegehren zu.

Manchen kann es nicht schnell genug gehen

In Bayern steht seit dieser Woche fest, dass es in der ersten Juli-Hälfte tatsächlich zum Volksbegehren für ein Parallelangebot von G8 und G9 kommt. Und in Nordrhein-Westfalen lädt die grüne Schulministerin Sylvia Löhrmann vorsorglich zum runden Tisch, um auszuloten, ob auch zwischen Münster und Bonn die Stimmung zugunsten von G9 kippt. Selbst in Ostdeutschland, traditionell die Bastion der Turbo-Gymnasien, regt sich Widerstand. Der Brandenburger Landeselternrat fordert eine G9-Alternative neben dem G8, Ähnliches verlangt auch der Elternausschuss in Berlin.

In all der Reformeuphorie kann es manchen nicht schnell genug gehen. In Niedersachsen drängen Philologenverband und Elternräte, schon zum kommenden Schuljahr auf G9 umzustellen, die Landesregierung will den Schwenk immerhin ein Jahr länger vorbereiten. Fest steht schon jetzt: Der Weg zurück zur längeren Schulzeit ist mit Problemen gepflastert.

Weniger Räume, mehr Mensen

Lehrpläne müssen geändert werden, viele Schulbücher wohl ebenso. Denn wer den Schülern mehr Zeit einräumen will, der muss zumindest in einzelnen Klassenstufen am Stoff und dessen Verteilung basteln. Aufgaben der 9. Klasse werden dann womöglich erst Anfang der 10. Stufe durchgenommen. Ähnliche Erschwernisse kommen auch beim Platzbedarf auf viele Gymnasien zu. Die Schulen haben sich längst darauf eingestellt, dass eine Jahrgangsstufe weniger untergebracht werden muss, es gibt weniger Räume - dafür mehr Mensen, weil der G8-Stundenplan viel Nachmittagsunterricht vorschreibt. Für ein zusätzliches Schuljahr fehlen mittlerweile vielerorts Klassenzimmer - und Lehrer. Das Land müsste zusätzliche Pädagogen einstellen.

Und da wäre noch der "Nuller-Jahrgang": So wie der Wechsel von G9 zu G8 bewirkte, dass ein alter und ein neuer Jahrgang gleichzeitig Abitur machen, wird es mit der Verlängerung der Schulzeit einen Sommer ohne Absolventen geben - mit Auswirkungen auf Hochschulen und Firmen, die Auszubildende suchen. Kurios auch: Wer im letzten G8-Jahrgang durchfällt, müsste die Schule fürs Wiederholen wechseln.

Die schönste Steilvorlage für einen deftigen Bildungsstreit liefert aber die Frage nach dem richtigen Modell für ein neues G9: Soll nun in der Mittelstufe weniger gelehrt, oder sollen die Oberschüler entlastet werden? Sollen sich die Gymnasien für eine Variante entscheiden oder beides anbieten, G8 und G9? Und wann sollen sich die Schüler festlegen? Schon am Anfang des Gymnasiums oder erst zur Oberstufe? Und wie passt das zusammen, wenn ein Gymnasiast die Schule wechseln will - oder sich gar in ein anderes Bundesland wagt?

"Die Rolle rückwärts löst nicht die Probleme"

Wissenschaftler, aber auch Elternvertreter beobachten die Debatte mit wachsendem Unmut. Es formiert sich Widerstand gegen die G9-Bewegung. "Aus Sicht der Forschung spricht nichts gegen G8", sagt etwa Svenja Mareike Kühn, Bildungsforscherin an der Universität Duisburg-Essen. In Nordrhein-Westfalen habe sich durch die Umstellung auf G9 an einzelnen Gymnasien "kaum etwas am Unterricht geändert", sagt sie. Auch die Landes-Elternvereinigung der Gymnasien in Bayern ist skeptisch. "Die Rolle rückwärts löst nicht die Probleme", sagt deren Vorsitzende, Susanna Arndt. Der Unterricht müsse sich ändern, nicht unbedingt die Schulzeit.

Ralph Hartung, der Schulleiter in Neu-Isenburg, war ebenfalls "nie ein ausgewiesener G8-Gegner", wie er sagt. Doch der Wunsch nach Entschleunigung war nicht zu leugnen, die Schulkonferenz, in der Lehrer, Elternvertreter und Schüler vertreten sind, habe zugestimmt. "Ich verstehe mich hier als Dienstleister", sagt der Pädagoge. Und das neue Angebot kommt an: Zwei zusätzliche fünfte Klassen musste die Goetheschule einrichten. Ihm sei nun wichtig, wie das Projekt umgesetzt werde und was hinten rauskomme: "Am besten Jugendliche, die gerne zur Schule gehen und durch ihr Abitur gut aufs Leben vorbereitet sind."

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