Frühkindliche Bildung:Kletterwand für Achmed, Deutschkurs für Maria

Kinder werden vom Elternhaus geprägt - aber nicht nur: Auch das nahe Lebensumfeld hat entscheidenden Einfluss auf die Entwicklung. Viele Kommunen wollen fördern, doch fehlen ihnen die Daten, um die Mittel richtig zu verteilen. Das soll sich nun ändern.

Corinna Nohn

Wer benachteiligte Kinder fördern will, muss damit möglichst vor der Schule anfangen; wer Chancengleichheit zum Ziel hat, muss Geld und Fürsorge ungleich verteilen. Davon ist auch Joachim Nerpel, stellvertretender Leiter des Jugendamts in Heilbronn, überzeugt.

Nun ist die Stadt mit gut 120.000 Einwohnern keine ausgewiesene Problemkommune. Aber für baden-württembergische Verhältnisse leben hier überdurchschnittlich viele Migranten, sind besonders viele Kinder von Armut betroffen. Fast jedes fünfte Kind unter drei Jahren gehört zu einer Familie, die von staatlicher Grundsicherung abhängig ist - landesweit ist es nur etwa jedes zehnte. Deshalb fragt Nerpel: "Wie verteilen wir die Ressourcen so, dass die meisten Mittel dorthin fließen, wo die Probleme am größten sind?"

Um diese Frage zu beantworten, erfasst Heilbronn schon seit Jahren Sozialdaten zu Alleinerziehenden, Sozialhilfeempfängern, Migranten. Dennoch ist punktgenaue Hilfe schwierig. Denn ein innerstädtischer Planungsbezirk zählt in Heilbronn bis zu 9000 Einwohner. In jedem dieser Bezirke gibt es mehrere Kindergärten mit unterschiedlichen pädagogischen Konzepten, Sportvereine, lokale Initiativen. Da passiert es, dass die Stadt auch mal am Bedarf vorbeifördert. "Wir müssen stärker auf das einzelne Kind achten", sagt Nerpel.

Nicht nur die Eltern prägen

Die Stadt setzt deshalb Hoffnungen auf ein Projekt der Bertelsmann-Stiftung, an dem Heilbronn neben Jena als Modellkommune teilnimmt. Das Projekt heißt "Keck", kurz für "Kommunale Entwicklung - Chancen für Kinder". Langfristig sollen Städte und Gemeinden Keck nutzen können, um ihr knappes Geld effizienter einzusetzen - weil sie die Lage und die Entwicklung von Vorschulkindern heruntergebrochen auf einzelne Wohnquartiere kennen.

Denn Kinder werden durch ihre Eltern, aber auch stark durch ihr nahes Lebensumfeld geprägt. So verbringen Kinder der sozialen Mittelschicht mehr Zeit vor dem Fernseher und sind eher übergewichtig, wenn sie in sogenannten belasteten Wohnquartieren aufwachsen; und benachteiligte Kinder, die in Einfamilienhausgegend aufwachsen, profitieren von dem Verhalten der Mittelschicht um sie herum. Wer fördern will, muss nach der Scheidungsrate, aber auch nach dem Spielplatz, dem Verkehrslärm, dem Sportklub um die Ecke fragen.

In einem ersten Schritt wurden also Daten zu sozialer Lage, Lebensumfeld, Bildung und Gesundheit von Kindern gesammelt und für die Bundesländer und alle 413 deutschen Kommunen in einen Atlas im Internet eingespeist. Darunter sind erstmals Zahlen zur Kinderarmut von unter Dreijährigen - in diesem Alter kann der Förderung Ungleichheiten noch einebnen. Auf www.keck-atlas.de kann man zum Beispiel die Verteilung von Kindern ausländischer Herkunft oder das Betreuungsangebot vergleichen. An diesem Mittwoch wird die Seite freigeschaltet, der Süddeutschen Zeitung liegen die Daten bereits vor.

Überraschende Ergebnisse

"Richtig spannend wird es dann in der zweiten Phase", sagt Anette Stein, die bei der Bertelsmann-Stiftung das Programm "Wirksame Bildungsinvestitionen" leitet und für Keck verantwortlich ist. In dieser Phase befinden sich Jena und Heilbronn, die ihre Daten bereits auf kleine Wohnquartiere heruntergebrochen haben, in Heilbronn sind das 25.

Vor allem aber erheben die beiden Städte detaillierte Entwicklungsdaten von Kindern, damit sie die Wirkung oder auch die Lücken ihrer Förderung erkennen können. Das ermöglichst das Beobachtungsverfahren Kompik, was für "Kompetenzen und Interessen von Kindern" steht. Einmal jährlich sollen Erzieher und Erzieherinnen ihre Kindergartenkinder (dreieinhalb bis sechs Jahre) mit standardisierten Fragebögen bewerten. Das dauert 30 bis 60 Minuten je Kind. Zu beantworten sind etwa 150 Fragen, zum Beispiel nach der motorischen Fähigkeit, einen Ball zu fangen, oder nach sozialer Kompetenz, etwa ob das Kind Freunde hat. Die Bögen, die frei verfügbar im Internet sind, hat das Münchner Staatsinstitut für Frühpädagogik unter anderem mit Kitas vor Ort entworfen.

Die Entwicklung dokumentieren

Joachim Nerpel, der bereits eine Erhebung in seiner Stadt koordiniert hat und die Ergebnisse "sehr vielversprechend" nennt, sagt, Kompik erfülle in den Kitas zwei Zwecke. Zum Einen könnten die Erzieher die Entwicklung jedes Kindes in allen Facetten erfassen, "es kann nicht mehr passieren, dass ein Entwicklungsbereich versehentlich unbeachtet bleibt". Außerdem wird in allen Bundesländern zwar empfohlen oder auch vorgeschrieben, dass Kitas die Entwicklung von Kindern dokumentieren - aber nur Bayern gibt ein Standardverfahren vor. Zweitens liefere Kompik eine sachliche Grundlage, um mit den Eltern ins Gespräch zu kommen. "Und das ist das Wichtigste", sagt Nerpel. Damit schließlich die Kommune Einblick erhält, werden die Daten am Ende anonymisiert in den Keck-Atlas eingespeist.

Der erste Durchlauf in Heilbronn habe bereits überraschende Erkenntnisse zutage befördert, berichtet Nerpel: Der Ausländeranteil in allen innerstädtischen Quartieren liege bei etwa 30 Prozent, auch die übrigen Bevölkerungs- und Sozialdaten glichen sich. "Rein statistisch war also nichts auffällig. Umso erstaunlicher, dass wir in zwei dieser Bezirke hohe Sprachdefizite bei den Kindern festgestellt haben." In einem anderen Stadtteil habe sich herausgestellt, dass die Kinder zwar sprachlich sehr fit seien, aber ein Großteil erhebliche grobmotorische Probleme habe. "Das hätten wir ohne Kompik anders eingeschätzt."

Wohl allen Bürgermeistern ist längst klar, wie wichtig (früh-)kindliche Förderung ist. Trotzdem weist die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung für Deutschland im frühen Bildungsbereich eine Unterfinanzierung aus. Die wird dadurch verschärft, dass Städte und Gemeinden, die sparen müssen, ihre Ausgaben oft pauschal kürzen. Denn es fällt ihnen schwer, Prioritäten zu setzen. Auch Joachim Nerpel spricht von "Gießkannenprinzip und Rasenmähermethode" und sucht Wege, es anders zu machen. Deshalb hat er schon 72 von 86 Kitas in Heilbronn überzeugt, die Kompik-Bögen zu nutzen. "Damit sehen wir die feinen Unterschiede, damit können wir für jedes Kind, für jeden Ortsteil eine Lösung finden."

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