Förderung von Hochbegabten:Wer suchet, der findet

Förderung von Hochbegabten: Blick in eine Klasse für Hochbegabte in München: die Lehrerin geht schneller durch den Stoff und nutzt die gewonnene Zeit für die Vertiefung.

Blick in eine Klasse für Hochbegabte in München: die Lehrerin geht schneller durch den Stoff und nutzt die gewonnene Zeit für die Vertiefung.

(Foto: Kathrin Schwarze-Reiter)
  • Deutschland ist bei der Förderung von Hochbegabten besonders rückständig. In den vergangenen Jahren fließe das Geld vor allem in die Inklusion von behinderten Schülern, kritisieren die Autoren einer Studie zum Thema.
  • Vor allem Mädchen sowie Kinder aus bildungsfernen Schichten oder mit Migrationshintergrund werden oft nicht als Talente erkannt.
  • Die neue Vorsitzende der Kultusministerkonferenz (KMK), Brunhild Kurth (CDU), hat kürzlich die Förderung leistungsstarker Schüler zur zentralen bildungspolitischen Herausforderung erklärt.

Von Kathrin Schwarze-Reiter

Familie Littmeier musste erst über einen Berg, um zu merken, dass ihre Töchter etwas Besonderes sind. Bei einer Wandertour im Urlaub fragten die Eltern ihre ältere Tochter Christine Spanischvokabeln ab. "Sag ich nicht", gab Christine trotzig zurück. Plötzlich kam doch eine Antwort - aus der Kraxe auf dem Rücken des Vaters, von Katharina, der jüngeren Tochter. Sie übersetzte die Vokabeln korrekt. Christine war damals fünf, Katharina knapp drei Jahre alt. Das war vor mehr als zwei Jahren. Beide Töchter brachten sich früh selbst das Lesen und Schreiben bei, sie interessierten sich für Wissensgebiete wie Astronomie und Anatomie. "Trotzdem war uns nicht bewusst, dass sie anders sind", sagt Stephan Littmeier, dessen Familie in Wirklichkeit anders heißt.

Littmeier sieht Hochbegabung nicht unbedingt als Geschenk. Diesen Satz versteht man, wenn der Vater von Christines Schwierigkeiten in der Schule erzählt. Ihr fliegt vieles zu, doch die Hausaufgaben schmierte sie hin. Der Siebenjährigen ist es zu langweilig, sich Wissen zu erarbeiten. Von einem Klassenkameraden wird sie oft drangsaliert, weil er merkt, dass sie fitter im Kopf ist als er. Die Eltern leiden unter der Kritik. Auch Katharina wird im Kindergarten immer unzufriedener.

Keine Erzieherin, kein Lehrer bemerkt, was mit Christine und Katharina los ist. Ihnen fehlt die Zeit, genauer hinzusehen. Erst die Mutter einer anderen Hochbegabten spricht die Littmeiers an. "Wir sind aus allen Wolken gefallen, alle Anzeichen passten auf unsere Töchter", sagt Stephan Littmeier. Die Familie fährt nach Bochum, um den IQ der Mädchen im privaten Institut für das begabte Kind von Birgit Oschmann testen zu lassen. Nur zwei Prozent der Kinder haben einen IQ von 130 oder höher, sie bezeichnet man als hochbegabt. Katharina hat einen IQ von 134, Christine bringt es auf 138.

Solch eine Gabe bleibt oft unentdeckt. Deutschland ist bei der Förderung von Hochbegabten besonders rückständig, in den letzten Jahren fließe das Geld vor allem in die Inklusion von behinderten Schülern, kritisieren die Autoren der Pulss-Studie, die gymnasiale Begabtenklassen in Bayern und Baden-Württemberg untersucht hat. Zur Begabungsförderung gibt es viele Absichtserklärungen, die neue Vorsitzende der Kultusministerkonferenz (KMK), Brunhild Kurth (CDU), will das Thema nun tatsächlich angehen - sagt sie zumindest. Kurth hat kürzlich die Förderung leistungsstarker Schüler zur zentralen bildungspolitischen Herausforderung erklärt, hierzu soll es ein neues Konzept der KMK geben (siehe auch den Text unten).

Bisher werden vor allem Mädchen und Kinder aus bildungsfernen Schichten übersehen. Mädchen mit guten Noten gelten als fleißig, Jungs als hochintelligent. So sind unter den Diagnostizierten 75 Prozent Jungen und 25 Prozent Mädchen, obwohl die Hochbegabung geschlechtlich in etwa gleich verteilt ist; das zeigen Studien der Karg-Stiftung. "Das deutsche Schulsystem erlaubt es, dass Mädchen nicht auffallen, weil sie ihren Wissensdurst mit Büchern kompensieren", sagt die Institutsleiterin Oschmann. "Jungs sind fordernder und werden schneller verhaltensauffällig." Manchmal landen sie dann in der Förderschule. Auch Christine, so warnte Birgit Oschmann die Eltern, droht eine Schulverweigerin zu werden.

Hochbegabte sind zwar neugierig und fantasievoll, aber oft auch sehr willensstark und sensibel. "Nicht jedes Kind kann eine solch große Disziplin aufbringen, sich ruhig zu verhalten, wenn es sich häufig in der Schule langweilt", sagt André Jacob. Der Psychologe koordiniert den "Berliner Arbeitskreis Erziehungsberatung bei Familien mit hochbegabten Kindern". 60 Prozent der Familien kommen aufgrund von Erziehungsproblemen. "Ab der dritten Klasse beginnt es nicht selten, für einen unentdeckten Hochbegabten schwierig zu werden", sagt Jacob. Die Berater versuchen deshalb Teufelskreise, die sich in den Familien durch Druck, Enttäuschung oder Aggressionen aufgebaut haben, zu durchbrechen und gemeinsam mit den Familien neue Perspektiven zu entdecken.

Leidensweg der Kinder

Auch Migranten fallen oft durchs Raster, häufig, weil sie nicht gut Deutsch können, wie Forscher der Universität Erlangen-Nürnberg kritisieren. Sie haben das Projekt "Hochbegabte mit türkischem Migrationshintergrund" ins Leben gerufen, um diese Schülergruppe zu fördern. Zumindest in Berlin ist durch eine politische Entscheidung eine Trendwende eingeleitet: Seit dem Jahr 2000 müssen die Erziehungsberatungsstellen gleichmäßig über das Stadtgebiet verteilt sein. Nun sind diese nicht mehr nur in betuchter Nachbarschaft zu finden, sondern auch an sozialen Brennpunkten. "Inzwischen kommen immer mehr Eltern aus allen Schichten, die sich trauen zu fragen, ob ihr Kind nicht hochbegabt sein könnte", sagt Jacob.

Für die Kinder endet damit oft ein langer Leidensweg. Inzwischen gibt es eine Berliner Selbsthilfegruppe türkischer Väter und ein Mentorenprogramm im Hamburger Arbeiterviertel Wilhelmsburg. Oschmann beobachtet in ihrem Institut seit vier Jahren ein gestiegenes Interesse von sozial schwächeren Familien. "Sie betrachten Hochbegabung nicht mehr als Krankheit, sondern als eine Färbung der Persönlichkeit."

Auch die Littmeiers haben sich an solch eine Färbung ihrer Kinder gewöhnt. Katharina, die Jüngere, wird in Oschmanns Institut gefördert. Christine geht inzwischen zufrieden in eine normale Schulklasse. Ihr Glück: eine verständnisvolle Lehrerin, die sowohl behinderte als auch hochintelligente Kinder integriert. An weiterführenden Schulen bietet der Staat je nach Bundesland mehr Fördermöglichkeiten, etwa am Maria-Theresia-Gymnasium in München: Experimente mit Zufallselement, Wahrscheinlichkeit, Permutation - Lehrerin Karoline Laubmann geht in der 8d schnell im Mathestoff vorwärts. Wenn sie eine Frage stellt, gehen viele Finger hoch. Die Stochastik-Aufgaben haben die meisten der 19 Schüler nach fünf Minuten fertig, kaum eine Antwort ist falsch. Als Karoline Laubmann fragt, wo im Alltag Stochastik gebraucht wird, spricht Eddie über Kernchemie und Oliver über die Steuern von Versicherungen. "Es macht als Lehrer einfach mehr Spaß, wenn alle aufmerksam sind und rege Diskussionen entstehen", sagt Laubmann.

Beschleunigter Unterricht

Das Münchner Gymnasium wird derzeit vom bayerischen Kultusministerium und der Karg-Stiftung mit sieben anderen Gymnasien in Bayern und Baden-Württemberg zu einem Zentrum in der Hochbegabtenförderung ausgebaut. Solch eine Spezialisierung sucht man in anderen Bundesländern vergebens. Von der 6. bis zur 10. Klasse lernen die Hochbegabten in einer eigenen, sogenannten D-Klasse.

"Der Stoff wird in den D-Klassen nicht beschleunigt, sondern breiter gefächert und tiefer durchleuchtet", sagt die Schulleiterin Birgit Reiter. Sie bezeichnet das als "Enrichment". Die Schlacht um Integration und Exklusion will sie gar nicht schlagen, denn die Schüler mit der besonderen Gabe werden nicht abgeschottet. Sie lernen mit den anderen Schülern zusammen Religion, Ethik und Sport. Einmal im Jahr gehen alle auf Klassenfahrt, von der 11. Klasse an bereiten sie sich gemeinsam aufs Abitur vor.

Der Pulss-Studie zufolge funktioniert diese Art der Förderung gut: Die Schüler der beteiligten bayerischen Gymnasien haben bessere Noten als Schüler mit ähnlichem IQ, die nicht in gesonderte Förderklassen gehen. Außerdem geben sie an, glücklicher zu sein. "Für viele ist es eine völlig neue Erfahrung, nicht mehr als ein bisschen seltsam abgestempelt zu werden", sagt die 18-jährige Schülerin Nadine Urner. "Wir sind eben ganz normal und keine dauerlernenden Aliens."

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