Erster Schul-Amoklauf in Deutschland:"Onkel, schieß uns nicht!"

Amoklauf vor 100 Jahren

Eine Stadt vereint in der Tragödie: Trauerzug für die Opfer des Schul-Amoklaufs von Bremen-Walle am 20. Juni 1913. 

(Foto: dpa)

Erfurt, Emsdetten, Winnenden. Drei Städtenamen, die für unfassbare Gewalttaten von Schülern an Mitschülern und Lehrern stehen. Der erste dokumentierte Amoklauf an einer deutschen Schule fand aber schon vor 100 Jahren in Bremen statt. An der Sankt-Marien-Schule tötete ein Lehrer damals fünf Mädchen.

Von Johanna Bruckner

Elsa, Maria, Sophie und Anna liegen im Schatten einer knorrigen Rotbuche begraben. Auch Elfriede, genannt "Elli", hat auf dem Friedhof von Bremen-Walle ihre letzte Ruhestätte gefunden. Die Gräber der Opfer des ersten Schul-Amoklaufs in Deutschland wurden nie neu belegt. Es ist eine Geste des Respekts für die fünf Mädchen. Und ein Symbol gegen das Vergessen.

Das Verbrechen des Oberschullehrers Schmidt fand 1913 sogar in der New York Times Erwähnung - heute ist die Erinnerung daran jedoch verblasst, werden längst andere Städtenamen mit Bluttaten an Schulen in Verbindung gebracht: Erfurt, Emsdetten, Winnenden.

Am Morgen des 20. Juni 1913 verlässt der 30-Jährige sein möbliertes Zimmer in der Oderstraße im Westen der Stadt. Es ist ein Freitag, die Sonne scheint. Schmidt trägt eine Aktentasche unter dem Arm. Darin sind jedoch keine Unterrichtsmaterialen - der Pädagoge ist zu dieser Zeit ohne Anstellung. In seiner Tasche hat er zehn Pistolen verstaut. Dazu hat er etwa 1000 Schuss Munition bei sich, auch unter seinem Hut und in einem Strumpf sind Patronen versteckt.

"Nach einer Schrecksekunde brach Panik aus"

Sein Ziel in der damaligen Schönbecker Straße erreicht Schmidt um kurz vor elf Uhr. Im Hochparterre der katholischen Sankt-Marien-Mädchenschule hat sich bereits eine Klasse aufgestellt, um geschlossen in die gleich beginnende Pause zu gehen. Schmidt betritt das Gebäude und eröffnet noch auf der Treppe das Feuer. Aus zwei Pistolen gleichzeitig schießt er auf Schülerinnen, auf Lehrer, auf den Hausmeister.

"Nach einer Schrecksekunde brach Panik aus", schreibt Hermann Sandkühler, Archivar der Gemeinde Sankt Marien, in seinen Aufzeichnungen zu jenem Tag. "Die Mädchen stoben auseinander (...). Schmidt verfolgte die Kleinen in den Klassenraum. Dort schoss er wahllos auf die Mädchen, die sich teilweise unter den Schulbänken verkrochen hatten und flehentlich baten: 'Onkel, schieß uns nicht!'"

Doch Schmidt ist im Blutrausch, feuert sogar noch aus dem Fenster auf jene, die über den Hof zu flüchten versuchen. Auf einer Treppe stellt sich dem Amokläufer schließlich ein Lehrer in den Weg.

Hubert Möllmann, damals 24 Jahre alt, schildert seine Begegnung mit Schmidt später so: "Ich griff nach seinen Handgelenken und riss ihm die Arme hoch. Wir stürzten beide die Stufen hinunter. Er verlor eine Pistole. Die andere konnte ich ihm wegnehmen. Ich setzte mich auf den um sich schlagenden Mann, richtete die Waffe gegen seinen Kopf. Dann wurde ich ohnmächtig."

Kollegen des jungen Lehrers halten Schmidt bis zum Eintreffen der Polizei am Boden. Möllmann selbst ist an Bauch und Schulter getroffen worden, er schwebt wochenlang zwischen Leben und Tod. Eine Kugel können die Ärzte nicht entfernen, dennoch nimmt Möllmann seine Lehrtätigkeit an der Sankt-Marien-Schule ein knappes Jahr nach der Tragödie wieder auf. Auch dafür bekommt er von der Stadt Bremen die Silberne Rettungsmedaille verliehen.

Die Frage nach dem Warum

Für fünf Mädchen im Alter von sechs und sieben Jahren kommt sein mutiges Eingreifen zu spät. Sie sterben im 20-minütigen Kugelhagel, ein Opfer erleidet einen Genickbruch. Die kleine Elli erliegt nach vier Wochen im Krankenhaus ihren schweren Verwundungen. Neben den Todesopfern gibt es mehr als 20 Verletzte, die meisten sind Kinder.

Wie nach den Attentaten von Erfurt, Emsdetten und Winnenden beschäftigt die Menschen nach den Geschehnissen vom 20. Juni 1913 vor allem eine Frage: Warum?

In Polizeiverhören und später in Briefen gibt Schmidt Hass auf Katholiken als Motiv an. Sein eigener Vater war evangelischer Pfarrer und einen Tag vor dem Amoklauf verstorben - der Auslöser der Bluttat. Der Sohn macht die konkurrierende Kirche für den Tod des Vaters verantwortlich: "Darum mussten die Kinder sterben."

Diagnose: Schizophrenie

Schmidt wird kurz darauf in eine Nervenheilanstalt eingewiesen. Bereits seine Anstellung als Lehrer hatte er wegen psychischer Probleme aufgegeben, war in einem Sanatorium behandelt worden. Ein ärztliches Gutachten kommt dann zu dem Schluss, dass der Amokläufer von Bremen-Walle "wahnsinnig" sei, unter Schizophrenie leide. Diese Diagnose schließt damals eine gerichtliche Verfolgung aus. Schmidt stirbt 1933 in der Psychiatrie an Tuberkulose.

Doch auch wenn er tatsächlich ein mörderischer Wirrkopf war - seine Begründung der Tat ist nicht allein das Produkt eines kranken Geistes. Denn Ressentiments gegen Katholiken sind zur damaligen Zeit im protestantisch geprägten Norden Deutschlands durchaus verbreitet. Besonders in Bremen gibt es Spannungen zwischen den Glaubensrichtungen, hier ist der Anteil der Katholiken an der Bevölkerung innerhalb von zehn Jahren auf zehn Prozent gestiegen.

Nach dem Mord an den Schülerinnen aber sind alle Differenzen erst einmal vergessen. Katholiken und Protestanten trauern gemeinsam um die fünf getöteten Mädchen. Bei der Trauerfeier für Elsa, Maria, Sophie und Anna wählt der Pastor der Gemeinde St. Marien Worte, die von der damaligen Zeit zeugen, vor dem Hintergrund der Attentate von Erfurt, Emsdetten und Winnenden aber erschreckend aktuell erscheinen: "Krieg und menschliche Mordlust machen in der Regel halt vor unschuldigen Kindern, hier sind gerade sie als Opfer gefallen."

Und noch etwas hat sich seit dem ersten Schul-Attentat nicht geändert. Bereits vor 100 Jahren wird über den zu leichten Zugang zu Waffen diskutiert. In Presseberichten aus dem Juni 1913 heißt es: "Bei der Besprechung des Attentats wird immer wieder die Frage laut, woher Schmidt die vielen Revolver und Patronen haben mochte."

Mit Material von dpa

Linktipp: Auch wenn manche Fragen gleich geblieben sind, das Schulmassaker 2002 am Erfurter Gutenberg-Gymnasium hat viele Prozesse angestoßen. Die Hintergründe von Schulattentaten werden seitdem erforscht, an Schulen wird Präventionsarbeit geleistet, Sicherheitsregeln für den Ernstfall wurden eingeführt - und nicht zuletzt wurde auch das Waffenrecht verschärft. Was sich getan hat und wo noch Handlungsbedarf besteht - ein Überlick.

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