Einwanderer-Schulen in Mannheim:Manchmal können nicht mal die Eltern lesen

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Manche Kinder haben noch nie einen Stift gehalten: Bundespräsident Joachim Gauck zwischen Schülern der Neckarschule in Mannheim (Foto: picture alliance / dpa)

Zehntausende Bulgaren und Rumänen wandern jährlich nach Deutschland ein, Kinder aus Südosteuropa füllen ganze Klassen. Wie sollen Lehrer diese Herausforderung meistern? Ein Besuch in Mannheim.

Von Roman Deininger

Der kleine Minas ist ein mitteilsamer junger Mann, sieben Jahre alt, er weiß auch ziemlich viel, zum Beispiel über den menschlichen Körper. "Wo ist der dicke Bauch?", fragt die Lehrerin. "Hier!", brüllt Minas; sein Bauch ist natürlich gar nicht dick. Er trommelt trotzdem begeistert mit den Händen darauf herum, auch die Nase und die Schultern kann er eindeutig verorten. Mit besonderer Leidenschaft weist er schließlich noch auf die Lage seines "Popos" hin. Vor ein paar Monaten konnte Minas noch kein Wort Deutsch, er hat schnell gelernt. Schnell genug jedenfalls, um deutliche Worte zu finden, als er kürzlich Bekanntschaft mit einem weiteren Körperteil machte: der Hand des Bundespräsidenten.

Joachim Gauck war in die Mannheimer Neckarstadt gereist, um, so hat er das selbst gesagt, "der wirklichen Wirklichkeit zu begegnen". Die Wirklichkeit der Neckarschule ist, dass fast 90 Prozent der Grundschüler einen Migrationshintergrund haben. Und dass die meisten Kinder zwischen sechs und acht Jahren, die mit Minas die "Vorbereitungsklasse" besuchen, sprachlich bei null anfangen. Der Weg in eine reguläre Klasse und eine hoffnungsvollen Schullaufbahn ist weit, das hat auch Gauck bei seiner Visite festgestellt. Dem Bundespräsidenten entfuhr der für seine Verhältnisse recht schlichte Satz: "Oh, dafür brauchen wir viele Lehrer."

Jedem einzelnen Schüler im Raum schüttelte Gauck damals die Hand. Da hatte Minas seinen großen Auftritt. "Au!", schrie er. "Zu fest!" Er darf jetzt behaupten, dass der Bundespräsident sich bei ihm in aller Form und mit einiger Herzlichkeit entschuldigt hat.

Es könnten noch mehr werden

Mannheim zählt neben Dortmund und Duisburg zu den Großstädten, die eine auffällig starke Zuwanderung aus Südosteuropa verzeichnen. Etwa 7000 Bulgaren und Rumänen leben derzeit in der 300 000-Einwohner-Stadt, allein 2013 gab es 1900 Neuanmeldungen. Nun könnten es noch mehr werden, seit 1. Januar gilt auch für Arbeitnehmer aus diesen beiden Länder die volle Freizügigkeit in der EU. Dabei sind die Wohnbedingungen in Mannheim für viele miserabel. Als sich die Lehrer an der Neckarschule unlängst wunderten, warum eine Schülerin immer krank war, fanden sie heraus: Die Familie hat keine funktionierende Heizung.

Der Stadtteil Neckarstadt ist das, was man ein Problemviertel nennt, einige Häuser haben noch Etagenduschen. Die günstigen Mieten locken Neuankömmlinge. An der Neckarschule treten wöchentlich neue Schüler an, manche haben noch nie eine Schule von innen gesehen, noch nie einen Stift gehalten, noch nie ein Puzzle gemacht. Um mit den Eltern zu reden, brauchen die Lehrer einen Übersetzer. Dieser findet dann bisweilen heraus, dass Vater und Mutter selbst in ihrer eigenen Sprache nicht lesen und schreiben können. Direktorin Brigitte Bauder-Zutavern sagt: "Die Arbeit im sozialen Brennpunkt ist zwar belastend, aber es ist immer wieder schön zu erleben, dass man helfen kann."

Im seit politischen Ewigkeiten SPD-regierten Mannheim hat man sich vorgenommen, die Brennpunkte mit außergewöhnlichen Anstrengungen in den Griff zu bekommen: Es gibt "Integrationslotsen" für erwachsene Einwanderer, es gibt die Vorbereitungsklassen und Schulsozialarbeiter für ihre Kinder. Bauder-Zutavern freut sich über 300 Euro im Jahr, mit denen die Stadt jeden einzelnen Schüler fördert. Die Direktorin kann damit ein paar Stunden individuellen Unterricht bezahlen, kann eine Gruppe auf Waffel-Backkurs schicken oder einfach eine Riesenladung Wecker anschaffen, damit ihre Schüler endlich mal pünktlich zum Unterricht erscheinen. Minas' Klasse, 16 Schüler, wird zurzeit von zwei Lehrerinnen betreut, das erlaubt es, nach Leistungsniveau zu unterscheiden.

"Wo sind die Haare"?, fragt die Lehrerin, Bauder-Zutavern beobachtet vergnügt, wie sich alle überschwänglich die Frisur zerzupfen. Dann wird die Direktorin wieder ernst: "Wenn wir es in der Grundschule nicht schaffen, die Kinder schulfähig zu machen, sind viele verloren."

Es ist nur ein kurzer Spaziergang von der Neckarschule hinüber zur Humboldt-Werkrealschule. Anteil der Schüler mit Migrationshintergrund dort: 84 Prozent. Direktor Harald Leber empfängt in einem schmalen Besprechungszimmer, ganz gedämpft hört man hier den Pausenlärm. Es sei schwierig, wenn jemand mit sieben Jahren noch kein Deutsch könne, sagt Leber. "Aber wenn jemand mit 15 noch kein Wort beherrscht, wird es noch viel schwieriger." Die Zeit dränge: Ohne Abschluss hätten nur wenige die Chancen auf einen Job.

Satz lesen, wegknicken, auswendig aufschreiben

Seit 31 Jahren ist Leber an der Humboldtschule, er hat schon viel Erfahrung mit der Integration türkischer Schüler gemacht. Die aktuelle Herausforderung mit den Südosteuropäern, sagt er, sei die größte seiner Karriere. "Unsere Lehrer müssen zugleich Sozialarbeiter sein. Und sie dürfen sich nicht entmutigen lassen von den Härten des Alltags."

Die Härten offenbaren sich in einem Klassenzimmer unter dem Dachgiebel. Ebenfalls eine Vorbereitungsklasse, die Schüler sind zwischen zehn und 16 Jahren alt. Sie schreiben ein "Knickdiktat": Satz lesen, wegknicken, auswendig aufschreiben. Thema Berufe: "Die Polizei ist immer da, wenn man sie ruft." Es geht nicht so fröhlich zu wie an der Grundschule, so sehr sich die beiden Lehrkräfte auch bemühen. Besonders die Jungs sind nicht mehr so süß wie Minas. Eine junge Lehrerin sagt: "Es ist ein Erfolgserlebnis, wenn sie ihre Sachen dabeihaben. Oder mich auf dem Gang grüßen." An zwei Tagen in der Woche steht den Pädagogen eine junge Bulgarin zur Seite. "Ohne sie", sagt die Lehrerin, "könnten wir manchmal die einfachsten Dinge nicht klarmachen."

Und doch, sagt Harald Leber zum Abschied, lohnten sich die Mühen und die Härten. Gerade erst hat er zwei Schüler aus der Vorbereitungsklasse an die normale Realschule schicken können. Probeweise.

© SZ vom 10.02.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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