Deutscher Schulpreis für Anne-Frank-Schule:"Wir testen lieber Grenzen aus"

Skepsis und Anfeindungen gab es bei der Gründung der Anne-Frank-Gesamtschule in Bargteheide Anfang der Neunziger. Nun erhält sie von Kanzlerin Angela Merkel den höchstdotierten Schulpreis Deutschlands. Warum ihr Konzept so erfolgreich ist.

Von Johann Osel

Deutscher Schulpreis Anne-Frank-Schule Bargteheide

Projekte statt Pauken: Die Anne-Frank-Schule wurde als beste Schule Deutschlands ausgezeichnet.

(Foto: Theodor Barth/RB Stiftung)

Eine "Schule für alle" wollte man werden, Anfang der Neunzigerjahre. Die Kinder sollten gemeinsam bis zum Hauptschulabschluss, zur Mittleren Reife oder zum Abitur lernen. Egal, welche Empfehlung ihnen die Grundschule mitgegeben hat. Noten erst in der Mittelstufe, dafür Entwicklungsberichte, kein Sitzenbleiben, Projekte statt Frontalunterricht - das alles gehört zum Konzept der Anne-Frank-Schule im schleswig-holsteinischen Bargteheide, eine halbe Stunde Bahnfahrt von Hamburg entfernt.

Doch der Anfang war hart: Mit nur einer Stimme Mehrheit votierte damals die Kommunalpolitik für die neue Schule; es gab Hohn, in Leserbriefspalten der Lokalpresse, im Wahlkampf. Schulleiterin Angelika Knies erinnert sich an Wahlplakate gegen die "Einheitsschule" - geklonte Kinder, alle identisch und mit irrem Blick. Und als ihre Schüler mal an einer Nachbarschule vorbeigingen, soll ein Lehrer aus dem Fenster gebrüllt haben: "Hier stinkt's nach Gesamtschülern."

Bis heute erzählt man sich an der Schule die Episode, inzwischen aber weniger mit Entsetzen als mit Coolness. Denn Erfolge geben der Gesamtschule mit gymnasialer Oberstufe recht: Die Nachfrage ist enorm, alljährlich benötigt man eine Lostrommel; ohne Abschluss habe seit zehn Jahren keiner die Schule verlassen, berichtet Knies, zehn Prozent der Abiturienten hatten nach der Grundschule einst eine Hauptschulprognose; und es gab schon allerlei Preise, mit denen die Schule geehrt wurde. Am Montag ist ein weiterer hinzugekommen, der mit insgesamt 200.000 Euro höchstdotierte seiner Art: der Deutsche Schulpreis.

Angela Merkel plaudert über eigene Schuldefizite

Der von der Robert-Bosch-Stiftung und der Heidehof-Stiftung initiierte Wettbewerb nahm 15 Schulen in die enge Wahl. Anfang des Jahres prüfte eine Fachjury Unterrichtsqualität, Schulklima und den Umgang mit Vielfalt. Die Relevanz des Preises zeigte am Montag die Anwesenheit von Kanzlerin Angela Merkel bei der Verleihung in Berlin. Sie plauderte mit der Moderatorin Sandra Maischberger über eigene Schuldefizite (alles gut, außer Sport und Textilarbeit), verwies bei der Schulfinanzierung charmant auf die Länder - machte sich vor allem aber dafür stark, kein Kind aufzugeben. So wie es die Preisträger forcieren - neben dem ersten Platz für Bargteheide gab es vier. Die Stiftungen sprechen von "Vorbildern für Schulentwicklung".

"Es ist eine Fiktion, dass man Kindern nach der Grundschule ansehen kann, welche Laufbahn sie später mal einschlagen", sagt Schulleiterin Knies. Nur 40 Prozent der Empfehlungen träfen zu - dass also ein Kind mit Hauptschulprognose an der Anne-Frank-Schule auch mit diesem Abschluss aufhört. Mehr als die Hälfte der Schüler schafften ein höheres Ziel. "Kinder brauchen eben Zeit und Chancen - und keine früheren Schubladen", sagt Knies.

Verschiedenartigkeit ist Trumpf

Wie zum Trotz setzt man in Bargteheide bewusst auf Verschiedenartigkeit. Zu je einem Drittel nimmt man Schüler auf, denen nach der Grundschule eine der drei klassischen Laufbahnen empfohlen wurde. Zudem achtet man auf eine Mischung aus Akademikerkindern und Schülern aus sozial schwierigen Verhältnissen, Lernbehinderte werden berücksichtigt sowie fünf Prozent an Kindern, die als hochbegabt diagnostiziert sind. Diese können zum Beispiel im "Spürnasenraum" wissenschaftliche Projekte austüfteln - während andererseits auch Berufsorientierung eine große Rolle spielt. Zum Konzept gehört die Kooperation mit Firmen und Kammern.

Aber funktioniert die "Schule für alle" im Alltag? Befürworter klassischer Schultypen sagen, dass nur diese alle Begabungen bestmöglich fördern könnten. So teilt das bayerische Kultusministerium mit: Gemeinschaftsschulen seien "ein Modell, das die starken Schüler nicht ausreichend fordert und die schwachen Schüler nicht ausreichend fördert". Knies entgegnet: "Eine Schule im dreigliedrigen System, das ist die eigentliche Einheitsschule, weil sie alle über einen Leisten schlägt." Im Unterricht in Bargteheide setzt man etwa auf Lerntheken - da finden Schüler Aufgaben in verschiedenen Schwierigkeitsgraden. Individuell lernen sollen sie auch in Projektarbeiten, so im Fach Weltkunde, das Geschichte, Politik und Erdkunde vereint. "Im Frontalunterricht, bei dem 22 von 25 Kindern dösen, profitiert niemand", sagt Knies.

Kampf gegen Vorbehalte

Mit Vorbehalten muss die Schule immer noch kämpfen. Karoline Mahlau, 14, war früher am Gymnasium, hat sich dort unwohl gefühlt ("stures Auswendiglernen") und wechselte. "Zu den Asozialen, Faulen und Kiffern", wie ihr garstige Ex-Klassenkameraden nachriefen. Pia Poehls, ebenfalls Anne-Frank-Schülerin, hört außerhalb ihrer Schule oft, dass sie "ja gar keine Leistung bringen" müsse. Dabei stimme genau das Gegenteil, sagt die 15-Jährige: In Matheproben der unteren Klassen gebe es drei Spalten, verschieden knifflig. "Hier kann man seine Fähigkeiten selber einschätzen, man lernt Verantwortung." Die Schulleiterin verweist darauf, dass trotz der Heterogenität die Leistungen überdurchschnittlich sind - extern überprüft.

Der erste Platz beim Schulpreis für reformpädagogische Schulen und Modelle mit gemischter Schülerschaft ist quasi etabliert. Das darf auch als Plädoyer der Jury gegen das gegliederte System gedeutet werden. Zumindest zur Fusion von Haupt- und Realschulen ging zuletzt bundesweit der Trend. Knies meint aber: "Wir warten nicht, bis sich die Rahmenbedingungen ändern, sondern testen lieber Grenzen aus."

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: