Deutsche Auslandsschule:Diese Schule ist eine Insel

Talitha Kumi, German Evang. Luth. School, Palestine

1851 wurde Talitha Kumi von Kaiserswerther Diakonissen in Ostjerusalem als Mädchenschule gegründet, ihr Name bedeutet: "Mädchen, steh auf!". Seit 1980 werden Jungen und Mädchen unterrichtet - in Palästina alles andere als selbstverständlich.

(Foto: Talitha Kumi)

An der Talitha Kumi lernen Jungen und Mädchen, Christen und Muslime gemeinsam. Klingt normal? Nicht im Westjordanland. Besuch an einer außergewöhnlichen Schule.

Von Alexandra Föderl-Schmid

Warum sie gerne in die Schule Talitha Kumi in Beit Dschala gehen? Den jungen Palästinensern fallen jede Menge Gründe ein, sie sprudeln gleich los - und zwar auf Deutsch. "Meine Freunde in anderen Schulen müssen viel auswendig lernen", sagt Milad Elias. "Wir sollen hier verstehen. Das hilft uns später auch auf der Uni." Bei Nour Abu Dayyeh sind schon die Geschwister und die Mutter auf diese Schule gegangen. "Es gibt außerschulische Aktivitäten", meint der musikalisch ambitionierte Rami Alaraj Oud. Die Mutter von Yara Nazer bringt ihre Tochter jeden Tag von Hebron nach Beit Dschala in die Schule und holt sie am Nachmittag wieder ab - das sind mehr als hundert Kilometer an einem Tag. "Diese Schule ist nicht so konservativ wie jene in Hebron, nicht so religiös. Es ist entspannter hier", meint sie.

Lernen in einem entspannten Umfeld ist alles andere als selbstverständlich in dieser Region und schon gar nicht an diesem Ort, einem der Brennpunkte des Nahostkonflikts. Die evangelisch-lutherische Schule liegt im Westjordanland, dem Kernland der palästinensischen Autonomiegebiete. Beit Dschala ist der Nachbarort von Bethlehem und rund elf Kilometer von Jerusalem entfernt. In Sichtweite der Schule ist einer der Checkpoints, der Israel vom Westjordanland trennt und den einige auf ihrem Schulweg passieren müssen.

Rund 650 Schüler besuchen die Grund- und Oberschule, dazu kommt noch ein Kindergarten für etwa 140 Kinder und 58 junge Palästinenser in der Hotelfachschule - auch das ist einzigartig in dieser Region. Schon im Kindergarten wird neben der Muttersprache Arabisch auch Englisch und Deutsch gelehrt, eine Sprache, die die Heranwachsenden bis zum Abitur begleitet; die wichtigsten Unterrichtsmaterialien sind zumindest zweisprachig. Seit 2008 gehört Talitha Kumi zu den deutschen Auslandsschulen, seit September darf sie sich sogar "Exzellente deutsche Auslandsschule" nennen. Eine "außergewöhnliche Schule", das war auch das Urteil des brandenburgischen Ministerpräsident Dietmar Woidke, der Talitha Kumi Anfang Mai besuchte.

Außergewöhnlich ist sie allein wegen ihrer Lage. Durch das zehn Hektar große Schulgelände, das sich einen Hügel hinaufzieht und auf dem sich die verschiedenen Gebäude zwischen Bäumen verteilen, verläuft eine unsichtbare Grenze. Sie trennt die A- und die C-Gebiete und prägt das Leben vieler im Westjordanland entscheidend: Die A-Gebiete stehen unter palästinensischer, die C-Gebiete unter israelischer Verwaltung. Für die Schulleitung ist deshalb der Umgang mit Behörden nicht immer einfach.

In der Schule selbst mischen sich nicht nur die Sprachen, sondern auch die Geschlechter und Religionen: Es gibt ungefähr gleich viele Jungen und Mädchen, die Hälfte der Schüler ist christlich, die andere muslimisch. Wobei in den unteren Schulstufen inzwischen mehr Muslime sitzen, wie Direktor Rolf Lindemann erklärt. Auch im Kindergarten beträgt der Anteil der muslimischen Kinder inzwischen 70 Prozent. Damit spiegelt sich wider, was im Westjordanland seit Jahren zu beobachten ist: dass immer mehr palästinensische Christen auswandern.

Die Schule wurde bereits 1851 gegründet

Muslimische und christliche Schüler werden in Talitha Kumi gemeinsam unterrichtet, nur die Religionsstunden finden getrennt statt. Allerdings gibt es Begegnungszeiten, um die jeweils andere Religion kennenzulernen. Die jeweiligen Feiertage werden ebenfalls gemeinsam begangen - auch die deutschen.

Die Schule wurde 1851 von Kaiserswerther Diakonissen in Ostjerusalem gegründet - als Mädchenschule, was sehr fortschrittlich zu dieser Zeit und erst recht in dieser Weltgegend war, wo die Gesellschaft noch heute patriarchalisch geprägt ist. Sie ist die älteste evangelische Schule in Palästina, seit 1975 wird die Bildungseinrichtung vom Berliner Missionswerk getragen. Der Name der Schule Talitha Kumi ist aus dem Markusevangelium entnommen und bedeutet "Mädchen, steh auf!" Dieser Appell ist bis heute Name, Programm und Auftrag, auch wenn seit 1980 auch Jungen unterrichtet werden. Damit übernahm Talitha Kumi unter den palästinensischen Schulen wiederum eine Vorreiterrolle, denn ein gemeinsamer Unterricht von Mädchen und Jungen ist nicht selbstverständlich.

Deutsche Bildungsdebatten haben es ins Westjordanland geschafft

Nur das Internat ist noch immer Mädchen vorbehalten, und zwar solchen aus sozial schwachen Familien. Durchschnittlich 4000 Schekel (932 Euro) pro Jahr beträgt das Schulgeld. Wer es sich nicht leisten kann, dem wird es erlassen, was derzeit bei etwa hundert Schülern der Fall ist.

Auffällig ist, dass man - etwa im Gegensatz zu den UN-Schulen im Gazastreifen - in den Klassenzimmern von Talitha Kumi keine Kopftücher sieht. In der Schule wird nicht nur Toleranz gegenüber anderen Konfessionen vermittelt, sondern auch praktische Friedensarbeit geleistet. Es werden Workshops zu Friedenserziehung angeboten, die Schüler können sich zu Streitschlichtern ausbilden lassen - hundert haben dieses Angebot bereits angenommen.

Einige aus der 12d haben auch an so genannten Model United Nations-Konferenzen unter anderem in Genf, Berlin und auf Zypern teilgenommen. Dort werden aktuelle politische Fragen diskutiert. Eine der Aufgaben ist, dass man auch Länder vertreten und sich in deren Lage versetzen muss. Ob sie auch Israel vertreten würden? Natürlich, so die einhellige Antwort.

Auf dem Schulgelände, wo es auch ein Gästehaus gibt, ist es in den vergangenen Jahren immer wieder zu diskreten Treffen zwischen Israelis und Palästinensern gekommen, wenngleich diese Begegnungen seit dem Gazakrieg 2014 abgenommen haben. Auch die Olivenernte von Schülern am Ostjerusalemer Ölberg, der aus historischen Gründen noch zur Schule gehört, wurde eingestellt - Sicherheitsbedenken. Die Schule wirkt wie eine Insel, aber man kann sich auch hier nicht ganz von den politischen Ereignissen ringsum abkoppeln.

Intensiv geblieben sind die vielfältigen Kontakte nach Deutschland. Von ihren Austauschprogrammen, die sie nach Emmendingen, Dessau, Bielefeld und Hamburg geführt haben, erzählen die Schüler in Beit Dschala begeistert, ebenso von zweiwöchigen Praktika, die sie im Vorjahr bei deutschen Firmen absolviert haben. Wechselseitige Besuche von Bläsern aus Deutschland und dem Westjordanland gibt es auch im Rahmen von "Brass for Peace". Palästinensische Kinder und Jugendliche erhalten in der Schule die Möglichkeit, ein Blechinstrument zu erlernen und dann in dieser Band aufzutreten. Der Schulchor hatte schon Einladungen zu Evangelischen Kirchentagen in Deutschland.

Auslandsschulen

140 deutsche Auslandsschulen in 72 Ländern fördert das Auswärtige Amt zurzeit. Dort lernen 82000 Kinder und Jugendliche auf Deutsch und in der jeweiligen Landessprache, ein Viertel der Schüler sind deutscher Herkunft. Deutschland entsendet 2000 Lehrer an diese Schulen. Zusätzlich zu den Auslandsschulen werden rund 1200 Schulen gefördert, die als Voraussetzung für ein Studium in Deutschland das Deutsche Sprachdiplom anbieten. Laut aktuellem Koalitionsvertrag soll das Netzwerk deutscher Auslandsschulen und internationaler Schulpartnerschaften weiter ausgebaut und gestärkt werden. SZ

Die Schüler von Talitha Kumi können neben dem palästinensischen Abitur Tawjihi auch den internationalen Abschluss "Deutsche Internationale Abiturprüfung" ablegen. Und auch deutsche Bildungsdebatten haben es bis ins Westjordanland geschafft. Auf eine Wand in der Schule hat jemand auf Deutsch geschrieben: "Ich bin fast 18 und habe keine Ahnung von Steuern, Miete oder Versicherung. Aber ich kann eine Gedichtsanalyse in 3 Sprachen schreiben." Das Zitat stammt aus einem Tweet, mit dem eine deutsche Schülerin 2015 eine Debatte darüber ausgelöst hatte, was Schüler heute lernen sollten. Einziger Unterschied: DIe Schülerin sprach von vier Sprachen - an der Talitha Kumi lernen sie eben drei.

Die Deutschkenntnisse und das Abitur eröffnen den jungen Palästinensern die Möglichkeit, an deutschen Universitäten zu studieren. Das wollen in der 12d fast alle tun, wenn die letzten Prüfungen vorbei sind. T-Shirts mit dem Schriftzug "Abi 18" haben sie sich schon drucken lassen. Viele wissen auch schon, was sie studieren wollen. Aber alle wollen zurückkehren in ihre palästinensische Heimat. "Um das Land zu entwickeln. Sonst bleibt es, wie es ist", meint Nour Abu Ayyeh. "Politisch ist die Lage sehr komplex. Eine Zwei-Staaten-Lösung wäre das beste. Und wir wollen uns dafür engagieren", erklärt Milad Elias. Aber haben sie überhaupt Hoffnung, dass sich etwas ändert in dieser Region? "Es gibt immer Hoffnung", meint Mirelle Khalilieh. "Zumindest glauben wir fest daran."

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