Depressionen bei Kindergartenkindern:"Aufhorchen, wenn Geschichten immer schlecht ausgehen"

Unbeschwerte Kindheit? Bereits im Vorschulalter können Angststörungen und Depressionen auftreten, erklärt Kai von Klitzing, Professor für Kinder- und Jugendpsychiatrie. Wie man eine ernsthafte Erkrankungen erkennt - und welche Rolle Leistungsdruck im Kindergarten spielen kann.

Von Johanna Bruckner

"Wir müssen uns mehr um die zu stillen Kinder kümmern", sagt Kai von Klitzing, Leiter der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik des Kindes- und Jugendalters der Universität Leipzig. Der Fokus von Gesellschaft, Wissenschaft und Pharmaindustrie liege vor allem auf Hyperaktivität und Aggression. Klitzing selbst forscht seit sieben Jahren zu Angststörungen und Depression im Kindesalter. Seine jüngste Studie zum Thema wurde im Journal of Child Psychology and Psychiatry veröffentlicht.

SZ.de: Herr Klitzing, Kindergartenkinder, die unter Depression leiden - das klingt alarmierend.

Kai von Klitzing: Für den Laien mag sich das erschreckend anhören. Schließlich gilt die Kindheit als unbeschwerte Zeit des Lebens. Aber dass Kinder Depressionen haben können, ist in der Wissenschaft nicht neu. Selbst Babys leiden darunter, beispielsweise nach einer abrupten Trennung von einer Bezugsperson, bei Vernachlässigung oder einer gleichzeitigen Depression der Mutter. Zu den ersten drei Lebensjahren gibt es viele Studien - wir haben uns um das bislang wenig erforschte Alter drei bis sechs Jahre gekümmert.

Sie haben für Ihre aktuelle Studie die Eltern von Kindergartenkindern in Leipzig zur Stimmung ihrer Kinder befragt. Ist das die richtige Methode, schließlich stehen Eltern heute im Ruf, überbehütend zu sein?

Natürlich ist die Elternbefragung methodisch begrenzt. Es gab in unserer Studie einen starken Zusammenhang zwischen einer Depression bei der Mutter und einer Depression beim Kind. Wir vermuten, dass das auch darauf zurückzuführen ist, dass depressive Mütter ihre Kinder schneller auch als depressiv einstufen. Deshalb versuchen wir, immer noch andere Informanten hinzuzuziehen, beispielsweise Kindergartenbetreuer. Und wir haben eine Methode aus den USA übernommen, mit der wir die Kinder auch selbst befragen können, ein ganz spezielles Puppeninterview. Mit zunehmendem Alter wird das aussagekräftiger.

Zwölf Prozent der untersuchten Kindergartenkinder wiesen Angst- und/oder Depressionssymptome auf.

Ja, wobei man differenzieren muss: Nicht alle Kinder, die beispielsweise eine Tier- oder Sozialphobie haben, häufig traurig oder gereizt sind, oder schlecht schlafen - sind tatsächlich depressiv und behandlungsbedürftig. Wir haben die zwölf Prozent, die laut den Eltern entsprechende Symptome zeigten, zu vertiefenden Gesprächen eingeladen. Dabei haben wir festgestellt, dass etwa bei Dreiviertel dieser Kinder eine Symptomhäufung vorlag, die Krankheitswert hatte, wie wir sagen. Aber nur bei knapp vier Prozent waren die Symptome so schwerwiegend, dass wir von einer sich andeutenden Depression ausgehen müssen.

Wie erkennen Mütter und Väter, ob ihr Kind einfach mal traurig ist - oder mehr dahinter steckt?

Die Dauer des emotionalen Zustandes ist ein Indikator. Wenn ein Kind in den Kindergarten kommt, ist Trennungsangst ganz normal. Eltern müssen sich keine Sorgen machen, wenn es in den ersten drei Wochen jeden Morgen bei der Verabschiedung eine Szene und Tränen gibt. Solche emotionalen Entwicklungsphasen stehen jedem Kind zu und sind auch gut: Es ist wichtig, dass ein Kind lernt, Traurigkeit zuzulassen; bedenklich wäre eher, wenn es gar keine Reaktion zeigen würde. Aber wenn ein Kind nach drei Monaten Kindergarten immer noch zurückgezogen in der Ecke sitzt und die Hälfte der Zeit weint, oder nachts nicht schlafen kann, sollte man dem nachgehen. Auch die Schwere der Symptome spielt eine Rolle: Wenn ich ein Kind beispielsweise gar nicht mehr aus dem Haus bekomme, ist das ein Indiz, dass möglicherweise grundsätzlich etwas nicht stimmt. Und im Zweifelsfall sollten sich Eltern einfach mal auf den Boden setzen und mit ihrem Kind spielen.

"Kinder müssen glänzende Augen sehen"

Warum?

In diesem Alter ist das Spiel entscheidend für das Kind, um eine Beziehung zum eigenen Selbst in Beziehung zu anderen experimentell zu erfassen. Einfacher gesagt: Es probiert sich aus, nimmt verschiedene Rollen ein, spielt unterschiedliche Situationen durch. Wenn ein Kind darauf keine Lust hat, oder wenn im Spiel sich dauernd wiederholende Katastrophen-Themen dominant sind, können das erste Anzeichen sein.

Katastrophen-Themen?

Ja, Eltern sollten aufhorchen, wenn die Geschichten ihres Kindes immer schlecht ausgehen. Nehmen wir zum Beispiel ein vierjähriges Mädchen, das vor dem Puppenhaus sitzt. Es denkt sich aus, was die darin wohnende Familie erlebt, und plötzlich steht das Haus in Flammen. Das ist per se noch nicht schlimm, wenn das Mädchen einen guten Ausgang findet: Die Feuerwehr kommt und löscht, alle werden gerettet. Aber wenn das Haus nach zwei Minuten wieder brennt und diesmal kommt die Feuerwehr nicht und alle sterben - also eine Wiederholung des Schreckensmotivs mit negativem Ausgang stattfindet - dann läuten bei uns die Alarmglocken.

Sind Mädchen im Kindergartenalter anfälliger für Depressionen als Jungen?

Im Gegensatz zum Jugendalter, wo vorwiegend Mädchen von Angststörungen und Depressionen betroffen sind, haben wir im Vorschulalter keinen Geschlechterunterschied gefunden.

Was sind die Gründe für eine Angststörung oder Depression in so jungen Jahren?

Die genetische Komponente ist nicht von der Hand zu weisen: Wer ein depressives Elternteil hat, hat ein höheres Erkrankungsrisiko. Man geht aber davon aus, dass gerade bei jüngeren Kindern verstärkt psychosoziale Faktoren eine Rolle spielen. Mutter und Vater haben sich getrennt; es gibt einen schweren Krankheitsfall in der Familie, oder Missbrauch. Auch emotionale Vernachlässigung spielt eine gravierende Rolle. Kinder brauchen den Widerhall im Gegenüber, sie müssen glänzende Augen bei ihren Eltern oder auch Oma oder Opa sehen, die sagen: "Wow, toll, dass es dich gibt, du bist das Größte für mich!"

Schon Kindergartenkinder stehen heute bisweilen unter enormem Leistungsdruck: Sie sollen schon mindestens eine Fremdsprache sprechen können, wenn sie in die Schule kommen; werden zum Tennis und zum Klavierunterricht gekarrt.

Elterliche Ambitionen können ein Problem sein, ja. Aus meiner klinischen Erfahrung kann ich sagen: Es ist grundsätzlich gefährlich, wenn es eine Diskrepanz zwischen den Erwartungen der Eltern und den Möglichkeiten des Kindes gibt. Wenn es sich beispielsweise um das lang erwartete erste Kind handelt und Mutter und Vater in dieses Kind alle Hoffnungen setzen; sie wünschen sich, dass es alles erreicht, was sie selbst vielleicht nicht erreicht haben. Wenn das Kind das spürt und die gestellten Erwartungen aber nicht erfüllen kann, ist das ein Risikofaktor.

Welche Behandlungsmöglichkeiten gibt es für ein depressives Kind?

Sie können ein Vorschulkind nicht mit Psychopharmaka behandeln. Es gibt keine fundierten Forschungsergebnisse, die das rechtfertigen würden. In Amerika gibt es dazu andere Meinungen, aber ich für mich schließe das praktisch aus. Damit stehen Sie allerdings vor dem nächsten Problem, denn in den Leitlinien unserer Fachgesellschaft heißt es: "Unter dem Alter von sechs Jahren gibt es keine Behandlung." Wir in Leipzig sind aber der Meinung, dass gerade in diesem Alter eine psychotherapeutische Behandlung sehr wirksam sein kann. Deshalb haben wir ein entsprechendes psychoanalytisches Therapieprogramm entwickelt, bei dem wir sowohl die Kinder behandeln, als auch die Familien einbeziehen. Die bisherigen Ergebnisse sind sehr vielversprechend.

Wie kommt man der Ursache einer Depression bei Kindern auf die Spur?

Vorwiegend übers Spiel. Man versucht in Einzelgesprächen mit dem Kind herauszufinden, was das entscheidende Konfliktthema sein könnte. Kinder mit einem erkrankten Elternteil haben häufig das Gefühl: Mir darf es nicht besser gehen als der Mama oder dem Papa, ich muss mich um sie kümmern. Das merken Sie zum Beispiel daran, dass ein kleines Mädchen beim Puppenspiel dem Puppenkind große Verantwortung auflädt. Das Puppenkind bringt der Mama Blumen mit, will dafür sorgen, dass sie fröhlich ist. In einem ersten Schritt wird diese Last, die das Puppenkind zu tragen hat, thematisiert. Und in einem zweiten - das muss aber sehr behutsam passieren - fragt man dann das Kind: "Könnte es sein, dass es dir auch manchmal so geht wie der Puppe?" Es ist wichtig, dass die Kinder lernen, Emotionen zu benennen, zu sagen: "Ich bin traurig."

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