Debatte um schulische Ehrenrunde:Bleib ruhig sitzen

Interaktive Grafik

Schulnoten und Sitzenbleiber

Das Sitzenbleiben gilt als so wenig zeitgemäß wie das dreigliedrige Schulsystem und die Tatzenstecken-Pädagogik. Doch was ist eigentlich so schlimm daran? Manche Jugendliche brauchen mehr Zeit zum Reifen. Ein Plädoyer für die verpönte Ehrenrunde.

Von Hans Kratzer

"Und wer zahlt's?" heißt Gerhard Polts schon leicht angestaubtes Bühnenprogramm aus dem Jahr 2000, in dem jedoch mittendrin das gerade wieder hochaktuelle Thema Sitzenbleiben aufblitzt. Polt begegnet einem jungen Mann, der beklagt, dass er durchgefallen sei und dass er nun das ganze Jahr wieder denselben Stoff in Physik, Latein und Erdkunde lernen müsse. "Sind Sie da so schlecht?", fragt Polt zurück. "Nein", sagt sein Gegenüber, "in Mathe hab i an Sechser ghabt." "Ja, warum müssens dann noch amal lernen, was scho kennen und bestanden ham?" "I muass halt so lang wieder Latein lernen, bis i in Mathe wieder besser bin. Des is des bayerische Bildungswesen", antwortet der junge Mann, dessen Erkenntnis uns in die Debatte um die sogenannte schulische "Ehrenrunde" hineinführt.

Nach der kürzlich erfolgten Ankündigung der Regierung von Niedersachsen, das Durchfallen abschaffen zu wollen, sind bildungspolitische Ideologen aus ihren Löchern gekrochen, um wie eh und je über Sinn und Unsinn dieses im deutschen Schulsystem seit Jahrhunderten verankerten Erziehungsinstruments zu streiten.

In der süddeutschen Schulgeschichte tritt uns der Sitzenbleiber ambivalent entgegen: Die verbreitete Meinung, er habe ein Leben lang das Stigma des Versagers getragen, trifft häufig nicht zu. Viele Gescheiterte sind durch die Erfahrung des Durchfallens geläutert und in ihrem Ehrgeiz angestachelt worden. Zur Liga der später höchst erfolgreichen Schulversager gehören beispielsweise Edmund Stoiber, Thomas Mann und Mehmet Scholl. Diese Litanei könnte man stundenlang weiterbeten.

Die Schulen kämpfen um jeden Schüler

Freilich, das ist alles lange her. Das Sitzenbleiben gilt als so wenig zeitgemäß wie das dreigliedrige Schulsystem und die Tatzenstecken-Pädagogik. Aber was ist eigentlich schlimm daran?

Zunächst einmal fällt auf, dass die Zahl der Sitzenbleiber deutlich zurückgegangen ist. In Deutschland gibt es zwölf Millionen Schüler, ungefähr 170.000 von ihnen müssen eine Klasse wiederholen, das entspricht einem Schnitt von gerade einmal 1,5 Prozent. Selbst auf den bayerischen Gymnasien dürfen die Schüler beim Vorrücken heutzutage mit einer Großzügigkeit rechnen, wie sie vor 20 oder 30 Jahren noch undenkbar gewesen wäre. Wer das Klassenziel verfehlt, hat im Zeugnis meistens vier oder gar fünf Mal die Note "mangelhaft" stehen. Die Schulen kämpfen in Zeiten des Geburtenrückgangs um jeden Schüler, sie brauchen Erfolge, Sitzenbleiber passen nicht mehr ins Konzept.

Unbestreitbar ist aber auch, dass nicht jedes lernschwache Kind von der Abschaffung des Durchfallens profitieren würde. Betrachten wir exemplarisch den Studenten Kilian C., der im vergangenen Sommer ein supergutes Abiturzeugnis erhalten hat. Während der Pubertät, sagt er, habe er allerdings einen solchen Hänger gehabt, dass er im Unterricht nichts mehr überrissen habe und durchgefallen sei. "Niemand hat mir einen Vorwurf gemacht", sagt er, "ich hatte länger Zeit zum Reifen und das Wiederholungsjahr hat mir gut getan." Bei manchen Schülern bewirkt erst das Durchfallen, dass die Eltern merken, ihr Kind könnte überfordert sein.

Im schulischen Leitbild ist dieser Weg aber nicht mehr vorgesehen, vielmehr ist es von einer gnadenlosen ökonomischen Effizienz geprägt. Möglichst viele Jugendliche sollen in immer kürzerer Zeit und mit immer weniger Schulstunden das Abitur erreichen. Die Folge ist, dass es an allen Ecken und Ecken brennt. Die Schulkinder besitzen eine geringere Sprachkompetenz als früher, sie können nicht mehr kopfrechnen, sie haben Konzentrationsprobleme und immer mehr von ihnen laufen als Grobmotoriker durch die Gegend.

Keine Zeit für das Behalten des Gelernten

Schon in der Grundschule werden die Kinder mit dichten Stundenplänen und Leistungserhebungen en masse gestresst, unentwegt wird Stoff in ihre Gehirne geschüttet, nur für das nachhaltige Behalten des Gelernten bleibt keine Zeit.

Die als Allheilmittel gepriesene individuelle Förderung verpufft ergebnislos, wenn ein Lehrer nicht einen, sondern 15 bis 20 Schüler mit völlig unterschiedlichen Leistungsprofilen vor sich hat und diese auf Vordermann bringen soll. Dass sich dies je ändern wird, ist schon wegen der Unbezahlbarkeit und des dafür erforderlichen Lehrpersonals utopisch.

Gleichzeitig wird unter dem Diktat der Wirtschaftlichkeit der Grundwörterschatz reduziert, ebenso das Auswendiglernen und das Einmaleinsrechnen, was die einen als Befreiung vom Erfolgsdruck, die Kritiker aber als naive Erleichterungspädagogik geißeln.

"Wer sich nie plagt, wird nie was leisten"

Diese Kulturrevolution an den Schulen hat das Problem des Sitzenbleibens an den Rand gedrängt. Ein Scheitern ist nicht mehr vorgesehen. Josef Kraus, der Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, wird indessen nicht müde, darauf hinzuweisen, dass viele Schüler das Risiko des Scheiterns brauchen, um mehr Energie in die Schule zu investieren. "Wer sich nie plagt, wird nie was leisten", sagt er.

Das Durchfallen, so wird von manchen Bildungspolitikern argumentiert, sei eine Verschwendung von Lebenszeit. Aus dem Blick geraten ist freilich, dass die eigentliche und schon in der Antike grundgelegte pädagogische Kunst nicht darin besteht, Zeit zu sparen, sondern Zeit zu verschwenden, und sei es, so könnte man anfügen, durch eine Ehrenrunde. Oder wie es der große Pädagoge Jean-Jacques Rousseau ausdrückte: Um Kinder zu erziehen, muss man verstehen, Zeit zu verlieren, um Zeit zu gewinnen.

Und meistens schadet es auch nicht, sie zunächst einen Irrweg gehen lassen. Früher war es üblich, Buben erst nach der 5. Klasse aufs Gymnasium zu schicken. Es hieß, sie seien noch nicht reif dafür. Heute steckt man bereits 8- und 9-Jährige hinein, die psychisch so unausgegoren sind, dass sie auffällig werden, Schulpsychologen beschäftigen und zu Durchfallern werden. Nicht zuletzt sie benötigen die Ehrenrunde, um sich jene Reife zu holen, die man ihnen vorher nicht gegönnt hat.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: