Debatte um die Inklusion:"Schule wie zu Zeiten der Feuerzangenbowle"

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Kirsten Ehrhard hat eisern dafür gekämpft, dass ihr Sohn Henri, der das Down-Syndrom hat, eine reguläre Schule besuchen darf. Darüber hat sie ein Buch geschrieben.

Interview von Lars Langenau

SZ: Frau Ehrhardt, alle gängigen Vorwürfe gleich vorneweg: Sie haben ein schweres Schicksal, aber akzeptieren Sie doch bitte, dass Ihr Sohn Henri behindert ist! Nehmen Sie das an und schweigen Sie!

Kirsten Ehrhardt: Ich habe kein schweres Schicksal. Wir haben einen anderen Weg als andere Menschen, aber das haben wir alle. Jeder hat einen anderen Job im Leben. Unser Job als Eltern ist, für unseren Sohn zu kämpfen und für ein Stück Normalität. Aber das ist die Sichtweise auf Menschen mit Behinderung und auf ihre Angehörigen in Deutschland. Genau das akzeptieren wir nicht.

Sind Sie überehrgeizig?

Wenn man versucht, ein Menschenrecht durchzusetzen, ist man dann besonders ehrgeizig? Wir verstoßen in Deutschland täglich gegen die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung. Das kann und darf sich kein Land der Welt leisten. Inklusion ist kein Gnadenakt, sondern eine humane und demokratische Verpflichtung.

Henri ist zu einer Symbolfigur geworden, die weltweit Beachtung findet. Ist er inzwischen auch eine Galionsfigur ihres eigenen Kampfes? Stellen Sie ihn aus?

Nein, wir schützen ihn sehr stark. Es gab vier, fünf Jahre keine Berichte oder Reportagen aus seiner Klasse. Erst mit einem konkreten Anliegen sind wir an die Öffentlichkeit gegangen. Das war offensichtlich notwendig. Und so lange es Henri damit gut geht, ist das in Ordnung. Wir wählen sehr genau aus, wen wir da reinlassen. Doch mit Medien über abstrakte Fälle zu sprechen geht nicht, das weiß ich aus meiner Zeit als Journalistin. Mein Buch würde auch nicht berühren, wenn ich 272 Seiten über die Theorie der Inklusion geschrieben hätte. Wir mussten also sagen: Es geht um unser Kind! Henri bekommt davon allerdings relativ wenig mit, da er in einen engen Freundes- und Familienkreis eingewoben ist, der ihn schützt. Dass sein Foto auf dem Titel des Buches ist, findet er lustig. Ansonsten ist es für ihn nicht so spannend, da es weder von Piraten noch von Robin Hood handelt.

Warum lassen Sie ihn nicht in dem Schonraum einer speziellen Förderanstalt?

Ein Schonraum ist doch der spezielle Blick auf Menschen mit Behinderung, bei dem wir denken, wir müssten sie schützen, weil sie besonders schutzbedürftig sind. Wir aber wollen Henri für das Leben in der Gemeinschaft fit machen - und nicht für das Leben in einer geschützten Gruppe, Hand in Hand mit Betreuern und anderen Menschen mit Behinderung, wo er in eine spezielle Arbeitsstätte gefahren wird oder gemeinschaftlich ins Kino gehen muss. Nein, er soll so weit wie möglich autonom leben. Frei zu sein bedeutet auch, zu sagen: Ich möchte heute Abend alleine mit dem Bus ins Kino fahren - und nicht darauf zu warten, bis eine Gruppe aus dem Behindertenwohnheim sich einen Film anschaut, den ich mir selbst nicht ausgesucht habe. Das ist nicht das Leben, das wir ihm wünschen. Wir wollen, dass er darf, was er kann und was er selbst will.

Kirsten Erhardt und ihr Sohn Henri. (Foto: Uwe Anspach)

Sie sagen selbst, dass Henri am Gymnasium kein Abitur machen wird, weil er das nicht kann. Warum dann der Kampf?

An keiner allgemeinbildenden Schule wird Henri voraussichtlich einen Abschluss machen. Aber das ist auch das Prinzip von zieldifferenter Beschulung, dass die Kinder andere Bildungsziele haben. Wir sprechen nicht über die klugen Rolli-Fahrer, sondern von Kindern, die eben nicht den Geschwindigkeitszielen der Gesellschaft folgen können. Das betrifft auch lernbehinderte Schüler, die nur in Deutschland so heißen. In anderen Ländern sind das eben einfach Kinder, die nicht so schnell lernen.

Warum unbedingt Gymnasium? Das war doch klar mit dem Widerstand.

Das war nicht allein unsere Idee, sondern als ein inklusiver Schulversuch des örtlichen Schulamtes gedacht. Die wollten zwei körperbehinderte Kinder und unseren Sohn aus dem Klassenverband der Grundschule am Gymnasium weiterführen. Wir wollten den Weg gehen, den andere Grundschulkinder auch gehen. Das schien uns eine Selbstverständlichkeit zu sein. Vielleicht war das im Nachhinein betrachtet auch ein bisschen blauäugig, denn es musste ja nicht unbedingt das Gymnasium sein. Wir haben unterschätzt, dass diese Schulform in Deutschland als etwas Unantastbares gilt.

Es gab Widerstand etwa vom Philologenverband , die Sorge, dass das Niveau sinke . Schließlich sei das Gymnasium ein Hochleistungsbetrieb, hieß es.

Wir Deutschen denken offensichtlich Schule immer noch wie zu Zeiten der Feuerzangenbowle. Und das Gymnasium ist die veränderungsresistenteste Schulform. Da stehen die Lehrer vorn, dozieren, halten Frontalunterricht; und hinten sitzen die braven Kinder, die alle das gleiche mitschreiben - und dabei besonders gut lernen. Das ist zumindest die Vorstellung. Dass uns Hirnforscher und Pädagogen seit Langem erklären, dass das so nicht funktioniert, wollen viele einfach nicht wahrhaben. Alles soll so bleiben, wie es ist. Dass sich das Gymnasium inzwischen völlig verändert hat und dort sicher nicht mehr nur noch die Elite zu finden ist, steht noch mal auf einem ganz anderen Blatt.

"Das haben wir noch nie so gemacht!" Was antworten Sie darauf?

Dann würden wir noch heute ohne Feuer wie in der Steinzeit in der Höhle sitzen.

Können Sie die Ängste der Eltern verstehen, dass deren Kind kürzer treten muss in einer Klasse mit Inklusion?

Ich kann die Ängste verstehen, aber ich glaube, dass man sehr gut darauf achten kann, dass niemand zu kurz kommt, wenn wir wirklich jedes Kind in den Blick nehmen. Auch die Kinder ohne Behinderung. Und wenn es Probleme geben sollte, dann kann man nachjustieren. Aber wir müssen doch erst Erfahrungen sammeln. Oft habe ich das Gefühl, dass die Skepsis nur heißt: Wir wollen das nicht. Es mag auch Angst vor dem Verlust von Privilegien, Angst vor dem Unbekannten sein. Doch das, was wir kennen, müssen wir nicht fürchten. Und Angst bringt Menschen niemals voran.

Ihre Kritiker warnen auch vor den Kosten, die Inklusion bedeutet: Zwei Lehrer pro Klasse, Umbauten und vieles mehr .

So lange mit den Regelschulen und Förderschulen zwei Systeme existieren sind hier Milliarden Euro gebunden. Also sollten wir uns Schritt für Schritt von dem Sondersystem trennen - und das Geld in ein wirklich inklusives System umschichten. Wie uns Experten vorgerechnet haben, mag das in einer Übergangsphase teurer sein, später aber nicht.

Laut einer aktuellen Forsa-Umfrage fühlen sich die Lehrer durch Inklusion überfordert. Fast 60 Prozent von ihnen haben keine sonderpädagogischen Kenntnisse.

Ich habe auch keine sonderpädagogischen Fortbildungen und muss mich trotzdem jeden Tag um mein Kind kümmern. Die Jobs in fast allen Lebensbereichen haben sich doch in den vergangenen Jahren brutal verändert und ich finde, dass sich auch alle auf veränderte Arbeitsbedingungen einstellen müssen. Das erwarte ich. Die Lehrer können Fortbildungen und gute Bedingungen fordern. Aber sich total zu verweigern, kann man doch in anderen Berufen auch nicht. Außerdem schließen sich Inklusion und Eliteförderung überhaupt nicht aus. Es geht doch bei beiden darum, das einzelne Kind mit seinen Fähigkeiten und Bedürfnissen in den Blick zu nehmen. Weil wir das nicht wirklich tun, ist unser Bildungssystem auf internationalem Niveau nicht konkurrenzfähig. Wir lassen derzeit auch andere Kinder zurück: Die mit Migrationshintergrund oder arme, die sind doch nicht alle dümmer. Es ging hier um ein Kind mit Downsyndrom an einem Gymnasium mit tausend Schülern. Was denken die denn? Dass tausend Schüler dümmer werden, weil Henri da sitzt und mit dem Abakus seine Matheaufgaben löst?

Was können uns behinderte Kinder lehren?

Sie können uns Vielfalt lehren, dass jeder anders ist. Dass jeder zum Zusammenleben beitragen kann. Dass das nichts Defizitäres ist. Monokulturen sind etwas Schreckliches, nicht nur beim Mais, sondern auch beim Menschen.

Bis zu welchem Grad der Behinderung ist Inklusion möglich? Sehen Sie Grenzen?

Nein, andere Länder wie Italien, Kanada, Finnland zeigen, dass selbst eine Beschulung im Krankenbett im Klassenzimmer funktioniert. Es kann auch mal Pflegepersonal mit dabei sein. Warum denn nicht? Alle Untersuchungen zeigen, dass Kinder mit Behinderungen die anderen Kinder in ihrem Lernerfolg nicht behindern. Und dass inklusive Klassen überwiegend starke sind, weil sich dort das Lernen und der Umgang miteinander verändert hat.

© SZ vom 01.06.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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