DDR in der Grundschule:Drittklässler proben den Aufstand

Lesezeit: 3 min

Spielerisch lernen Berliner Grundschüler den Unterschied zwischen Dikatur und Demokratie. (Foto: oh)

Ganz schön ungerecht, die ganze Sache: Viele Kinder wissen zu wenig über die DDR. In Rollenspielen sollen Grundschüler das Leben in einem Regime nachvollziehen - und den Unterschied zwischen Demokratie und Diktatur verstehen lernen.

Von Johann Osel

Die Stimmung gärt. Fast alle Kinder schlüpfen in die Rolle der Arbeiter, mit Spielzeughämmerchen werkeln sie im Klassenzimmer, manche tragen Bauhelme aus Plastik. Nach der Schufterei dürfen sie sich endlich an einem Tisch anstellen, das soll der Laden sein, es gibt Bezugskarten für Fleisch, Gemüse, Brot. Doch das Angebot ist dürftig, die Letzten in der Schlange bekommen gar nichts. Und auf einem Podest daneben sitzen die Regierenden mit strengem Blick, Parteimitglieder dämpfen jeden Unmut. Da können auch nicht die Mitschüler helfen, die zuvor eine Gewerkschafterkarte erhielten.

Es kommt zum Streik, zum Aufstand. Ein paar Kinder haben die Fluchtkarte bekommen, sie malen einen Koffer - mit fünf Dingen, die sie in den Westen mitnehmen. Andere landen im Gefängnis, sie müssen in der Ecke des Klassenzimmers auf einem Bein stehen. Ganz schön ungerecht, die ganze Sache.

Am Montag jährt sich der Aufstand vom 17. Juni 1953 zum sechzigsten Mal. Zusammen mit der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur hat die Bildungsagentur Capito "Probe den Aufstand" kreiert. Durch das Rollenspiel, sagen die Macher, sollen die Schüler DDR-Geschichte emotional kennenlernen. Mit einer Fülle an Projekten begleitet die Stiftung den 17. Juni - mit dem Mauerbau und der Wendezeit sei der Aufstand "eines von drei Ereignissen, die beispielhaft die Geschichte der DDR abbilden", heißt es.

Geboren in einem längst wiedervereinigten Land

"Das Spiel schafft die Identifikation mit dem Ereignis. Ein grundsätzliches Demokratieverständnis und erstes Wissen bleiben da viel besser hängen", meint Kathrin Rohwäder. Die Lehrerin einer Schule in Berlin-Friedrichshain hat es mit ihren Drittklässlern ausprobiert, je vier Schulstunden an zwei Tagen. Zwischen den Phasen des Aufstands gibt es inhaltliche Lektionen und Nachfragen, wie die Kinder das Ganze verstehen. Ihre Schüler sind acht Jahre alt, also geboren in einem längst wiedervereinigten Land.

Auffällig an vielen Projekten, die in der Stiftung und durch ihre Förderung entstehen, ist: Sie wenden sich explizit an Jüngere, der Zugang wird immer spielerischer. Zum 17. Juni hat man auch einen Wettbewerb lanciert, ganz modern: In einem Online-Buch sollen Schüler Texte und Videos eintragen zur Frage, was Freiheit bedeutet. Ein Kinderbuch behandelt die Teilung anhand einer Brieffreundschaft zwischen einem Jungen aus dem Osten und einem Mädchen aus dem Westen Berlins. An junge Leute richtet sich auch ein Kurzfilm zum 17. Juni, eine flippige Collage historischer Aufnahmen und bunter Bilder.

"Beim Material für Grundschulen gibt es nach wie vor Lücken. Die schließen wir gerade", sagt Jens Hüttmann, Leiter der schulischen Bildungsarbeit der Stiftung. Die Kinder sähen in den Medien oft Bilder, die ihre Neugier weckten - aktuell die Proteste in Istanbul. Hier müsse man sie abholen bei ihren Fragen. "Auch Grundschüler sollten schon in der Lage sein, zwischen Demokratie und Diktatur zu unterscheiden, also nicht historische Daten aufsagen, sondern Geschichtsbewusstsein entwickeln".

IQB-Studie
:Die Aufgaben des Bildungsvergleichs

Im Süden Deutschlands lernt es sich besser. Dies belegt erneut ein Bundesländer-Schulvergleich. Welche Aufgaben die Grundschüler lösen mussten, sehen Sie hier.

Dass es um das DDR-Wissen von Schülern schlecht bestellt ist, gilt als bekannt. Eine Studie über Neunt- bis Elftklässler in ausgewählten Ländern hatte vor gut fünf Jahren Debatten ausgelöst. Ein Viertel der Schüler in Brandenburg und Nordrhein-Westfalen hatte noch nie etwas vom 17. Juni gehört. Viele Schüler dachten, Konrad Adenauer sei ein DDR-Politiker, sogar Helmut Kohl wurde von etwa jedem Zehnten im SED-Apparat verankert.

Fazit der Forscher: "Schüler haben gravierende Defizite im Wissen und können Diktaturen und Demokratien nicht zweifelsfrei voneinander unterscheiden." Vor allem im Osten stießen die Forscher häufig auf die Ansicht, dass die DDR ein taugliches System gewesen sei. In einer anderen Studie kamen die Autoren zu dem Schluss: DDR-Geschichte werde im Bewusstsein der heutigen Schüler "zunehmend abstrakter und zeitlich wie der Bauernkrieg wahrgenommen".

Aber ist man mit dem Thema an Grundschulen nicht zu früh dran? "Schüler in diesem Alter können nicht alle Zusammenhänge in ihrer ganzen Komplexität begreifen. Das müssen sie auch nicht", behaupten die Entwickler des 1953-Spiels. Tatsächlich ist die DDR im Geschichtsunterricht erst später vorgesehen. Für Sachkunde an Grundschulen sehen die Lehrpläne aber "gesellschaftsbezogenes Lernen" vor, Themen wie Menschenwürde und Teilhabe. Lehrer können Beispiele in der Regel frei wählen, vom alten Rom bis zur DDR.

Zu wenige Zeitzeugen an Schulen

"Grundschüler haben einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn", sagt Lehrerin Rohwäder. Und ein enormes Interesse an der Vergangenheit. Als die Urgroßmutter eines Schülers 100 Jahre alt wurde, habe die Klasse den ganzen Tag von nichts anderem gesprochen. Auch beim Spielprojekt mussten die Kinder als Hausaufgabe Verwandte befragen. "Wenn sie am Ende wissen, dass es um Arbeit und Lebensmittel ging, wenn ein Gefühl für Freiheit und die Rolle von Bürgern entsteht - dann ist schon ganz viel erreicht", so Rohwäder. Die Niederschlagung des Aufstands durch Sowjetsoldaten wird den Kindern übrigens nur erzählt - gleichwohl dürfen am Ende auch einige die Polizisten mimen.

Der Spielplan empfiehlt, Zeitzeugen in die Schule zu holen. Ein Portal der Stiftung führt fast 300 Referenten bundesweit. Als Argument gegen eine Einladung nennen Lehrer oft fehlende Zeit, sagt Hüttmann. Den Vorwurf, dass sich in den neuen Ländern Lehrer ungern ihrer Biografie stellen, kennt er auch. Es gebe Kollegen, "die ein positives DDR-Bild haben und das Thema lieber wegschieben". Aber es habe sich viel verändert, jüngere Kollegen brächten Debatten in die Lehrerzimmer.

Zu mehr Engagement hatte unlängst der Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen, Roland Jahn, gemahnt: "Es hängt fast immer vom Engagement einzelner Lehrer ab, ob und wie stark im Unterricht darauf eingegangen wird." Es gehe aber nicht nur um Fakten: "Im Spiegel der Diktatur schärfen wir die Sinne für Freiheit und Demokratie."

© SZ vom 14.06.2013 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: