Bildungsreformen:Grundlegende Renovierung statt neuer Fassade

Bildung Agenda 2017

Schulen können sich Schüler nicht wünschen - sie müssen mit denen arbeiten, die sie von der Gesellschaft bekommen

(Foto: dpa)

Hauptschulen werden abgeschafft, aus G9 wird G8. Seit Jahrzehnten erfindet die Politik immer neue Konzepte. Doch wir brauchen keine Strukturreformen und auch keine "Bildungsrevolution". Wir brauchen eine Evolution der Bildung, die alle Schüler mitnimmt - auch und ganz besonders die schwachen.

Ein Essay von Johann Osel

Es muss eine wundersame Maschine sein, die im Keller der Kultusministerkonferenz in Bonn steht und bei Bedarf an alle Länder verliehen werden kann. Manchmal jedenfalls stellt man sich vor, dass es so einen Apparat geben muss, eine Schularten-Erfindungsmaschine, in die man Hauptschulen, Realschulen und Gymnasien packt, Schleudergang drückt und binnen kürzester Zeit ein neues Konzept ausgespuckt bekommt. Oder auch oft nur: einen neuen Namen. Gemeinschaftsschule, Sekundarschule, Oberschule, Werkrealschule, integrierte und kooperative Gesamtschule, Mittelschule, Mittelstufenschule, Realschule plus. Willkommen im Dschungel, willkommen in einem aus den Fugen geratenen Schulsystem, das Schüler und Eltern verwirrt und verärgert.

Recherche

"Welche Bildung brauchen unsere Kinder wirklich?" Diese Frage hat unsere Leser in der zweiten Abstimmungsrunde unseres Projekts Die Recherche am meisten interessiert. Dieser Text ist einer von zahlreichen Beiträgen, die sie beantworten sollen. Alles zur Bildungsrecherche finden Sie hier, alles zum Projekt hier.

Doch Deutschland braucht nicht ständig neue Reformen des Bildungssystems, sondern eine Reform der Bildung. Neue Schulen bringen keine neuen Schüler hervor, die Abschaffung etwa der Hauptschule schafft ja nicht den Typ des leistungsschwächeren Schülers ab. Und vom Schild an der Pforte oder einem ambitionierten Konzept alleine ist noch niemand klüger, reifer, fleißiger geworden. Schulen können sich Schüler nicht wünschen - sie müssen mit denen arbeiten, die sie von der Gesellschaft bekommen.

Nun ist es nicht reine Profilierungssucht, die Minister am System basteln lässt. Vielmehr gibt es zwei Gründe: Einerseits die sinkenden Schülerzahlen, so dass vor allem auf dem Land verschiedene Schularten fusionieren müssen. Andererseits der Gedanke, dass Kinder mit unterschiedlichen Niveaus gemeinsam lernen - damit sich die Stärkeren und die Schwächeren gegenseitig beflügeln. Doch das funktioniert nur, wenn nicht in der neuen Hülle die alten Muster fortgesetzt werden.

Seit Jahrzehnten vergeuden Regierungen Geld und Zeit

Eine Strukturreform ist schnell gemacht und lässt sich leicht als politischer Erfolg verkaufen. Seit Jahrzehnten vergeuden Regierungen genau damit Geld und Zeit - insbesondere nach dem Pisa-Schock, der Deutschland aufzeigte, dass die Leistungen der Schüler weltweit nur im Mittelfeld liegen. Dabei müssen die Rahmenbedingungen von Schule und vor allem der Unterricht anders werden, besser werden.

Und sie können besser werden. Nicht durch eine Bildungsrevolution, die von heute auf morgen alles auf den Kopf stellt. Sondern als ernst gemeinte Evolution. Nicht per Knopfdruck, nicht mit dem Erlass einer Reform, die für sich in Anspruch nimmt, den Stein der Weisen gepachtet zu haben. Sondern Schritt für Schritt, umzusetzen von den Lehrern an der Basis - und begleitet freilich durch einen tiefen Griff in die Kassen.

Ein Jugendlicher, zumal einer ohne Bildungshunger durch elterliche Erziehung, ist kein mit Wissen zu befüllendes Gefäß. Er braucht einen Lernraum Schule, der auch Lebensraum ist, in dem er Angebote vorfindet, die neugierig machen und zum Lernen anregen. Das muss keine Beerdigung des Frontalunterrichts sein, auch für den gibt es Argumente. Wenn in einer Klasse soziale Schieflagen derart aufeinanderprallen, dass tatsächlicher Unterricht nur einen Bruchteil der Stunde stattfinden kann, dann sind nur durch Gruppenarbeit die Probleme nicht verflogen. Aber etwas Abwechslung bei den Methoden wäre schon mal ein Anfang.

Hinderlich sind die straffen Lehrpläne, die Häppchen-Taktung in 45-Minuten-Einheiten, die Fixierung auf "abprüfbares Wissen". Schule orientiert sich wenig am Lernen, dafür stark an der Vergabe von Zertifikaten. Was von dem zur Prüfung Abgespulten dauerhaft hängenbleibt, spielt eine Nebenrolle. Am Gymnasium hat sich das durch die achtjährige Schulzeit verstärkt. Allerdings wird das zusätzliche Jahr im alten G9 heute oft romantisiert, das Grundprinzip - Schlagwort "Bulimie-Lernen" - war und ist dort allerdings das gleiche.

Es liegt auch am Geld

Zum Lern- und Lebensraum Schule gehören auch bessere Bedingungen: Eifrig melden sich Politiker zu Besuchen an Schulen an, wenn dort etwa ein Schülerlabor eingerichtet wird. Genau andersherum sollte es sein: Auf solche und andere Zusatzangebote muss jede Schule Zugriff haben - und der Minister dorthin fahren, wo das nicht der Fall ist.

Auch Ganztagsbetreuung muss mehr bieten als einen vollen Magen und ein bisschen Hausaufgabenhilfe am Nachmittag. In einer Studie des Deutschen Instituts für Internationale Pädagogische Forschung sagten mehr als ein Drittel der Ganztagsschulleiter: Die Ressourcen bei Personal, Räumen und Budget entsprächen gar nicht dem eigentlichen Konzept ihrer Ganztagsschule. Das darf nicht sein.

Es liegt also auch am Geld. Der Status quo verfehlt Grundlegendes, selbst in reicheren Bundesländern. Laut Schätzungen fallen hierzulande eine Million Schulstunden pro Woche aus. Dabei bräuchte jeder Schulleiter einen Personalstand mit Überkapazität - für bessere individuelle Förderung, für zwei bis drei Lehrer pro Klasse, wenn nötig. Und damit Pädagogen Fortbildungen absolvieren können, ohne dass derweil an ihrer Schule weiter Stunden ausfallen.

Bei den Pisa-Studien richtet sich der Blick meist nach Finnland. Dort steht den Schülern, und vor allem eben den schwächeren, eine Armada aus Lehrern, Sozialarbeitern, Betreuern, Trainern, Psychologen und Assistenten zur Seite. Die Leistungsergebnisse passen dort, weil auch die Bildung passt: Sie ist passgenau.

Und eine solche Versorgung benötigen auch die Gymnasien zunehmend. Die Schülerschaft dort ist so heterogen wie nie - kein Wunder bei Übertrittsquoten von 40 Prozent und mehr nach der vierten Klasse. Das Gymnasium ist, im Wortsinn, die neue "Hauptschule" und damit ein Ort, wo alle gesellschaftlichen Probleme stattfinden.

Wege, wie Schule besser werden kann

Welche Bildung brauchen unsere Kinder wirklich? Für dieses Thema haben sich die meisten Leser auf SZ.de bei der Abstimmung zum Projekt "Die Recherche" entschieden. Von diesem Montag an geht es eine Woche lang um Schule. Dabei kommen diejenigen zu Wort, die es betrifft: Jugendliche, Lehrer, Eltern und Experten. Sie sollen keinen Umsturz vorbereiten, sondern Wege aufzeigen, wie Schule besser werden kann.

Denn zwei Dinge sind klarzustellen: Schule und die junge Generation sind nicht dem Untergang geweiht, wie es gern dargestellt wird. Die "Generation Internet", die angeblich keinen anständigen Satz mehr schreiben kann, die tabulose "Generation Porno", die maßlose "Generation Komasaufen" oder die "Generation Scheißegal", angeblich ohne Interesse an der Politik, dafür an Konsum und Smartphones. Man kann es schon nicht mehr hören.

Wer in Schulen geht, wer mit Jugendlichen spricht, wer sich auf die Schülergeneration einlässt - der erkennt, welch großer Schatz die Jugend ist. Vom Studierzimmer des Philosophen aus verfasste Bücher behaupten, dass eine Schulrevolution nötig, dass das System irreparabel kaputt sei. Das ist falsch, und es ist ein Affront gegen Hunderttausende Lehrer, die jeden Tag ihr Bestes geben, trotz widrigster Umstände.

Oft muss der Schatz jedoch erst gehoben werden. Die Leistungen der Grundschüler in Kernfächern liegen, so jüngste Studien, über dem europäischen Durchschnitt und auch bei Pisa gab es stetig Verbesserungen. Besorgniserregend sind andere Zahlen, auch wenn es allmählich abgedroschen klingen mag: Deutschland zählt nach wie vor zu den Ländern, in denen der Bildungserfolg ganz stark - zu stark - vom Elternhaus abhängt. So sind die Viertklässler aus Haushalten mit "mehr als hundert Büchern" denen mit weniger Büchern im Schnitt um ein Jahr beim Lernen voraus. Außerdem erreichten zuletzt sechs Prozent aller Schüler gar keinen Abschluss, in manchen neuen Bundesländern mehr als jeder Zehnte.

Wie ein Land bei der Bildung dasteht, zeigt sich gerade an den Schwachen. Nötig sind Renovierungen an der Substanz, was, wie und wo Kinder lernen und wie man Schwächere besser fördert. Aber nicht die Abrissbirne für das ganze System. Und auch nicht nur ein neuer Anstrich.

Die Recherche zum Schulsystem: Bildung, wie wir sie brauchen

"Welche Bildung brauchen unsere Kinder wirklich?" - das wollten unsere Leser in der zweiten Runde von Die Recherche wissen. Mit einer Reihe von Artikeln versuchen wir diese Frage zu beantworten.

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