Bildungspolitik in Baden-Württemberg:Wahlkampf statt Schulfrieden

Realschulrektoren fordern Konzept für Hauptschüler

Kultusminister Andreas Stoch (SPD) reist viel durchs Land, um die grün-rote Schulpolitik zu erklären. Hier besucht er eine Realschule in Nürtingen.

(Foto: Franziska Kraufmann/dpa)
  • Im nächsten Landtagswahlkampf in Baden-Württemberg will die oppositionelle CDU Bildung zum zentralen Thema machen.
  • Die strittigen Themen reichen von Gemeinschaftsschule über verbindliche Schulempfehlung für Viertklässler bis zur Ganztagsbetreuung.

Von Josef Kelnberger, Stuttgart

Frank Mentrup, Oberbürgermeister von Karlsruhe, sollte eigentlich aus der Sicht eines Kommunalpolitikers erklären, warum sein Parteifreund Nils Schmid unbedingt Ministerpräsident von Baden-Württemberg werden muss. Aber dann konnte er, vor einer Woche auf dem Podium des SPD-Parteitags in Singen angekommen, doch nicht widerstehen. Er schlüpfte in seine alte Rolle als Bildungspolitiker.

Mentrup, bis 2013 Staatssekretär im Kultusministerium, erinnerte an den Jahrzehnte dauernden Kampf seiner Partei für ein Herzensanliegen: Bildungsgerechtigkeit, gleiche Chancen für alle Kinder, unabhängig von Herkunft, Einkommen und Bildung der Eltern. Und deshalb, sagte er, müsse die Partei im kommenden Wahlkampf die Reformen aus den Regierungsjahren seit 2011 mit Zähnen und Klauen verteidigen gegen einen konservativen "Rollback". Stürmischer Beifall brandete auf. Es war ein bemerkenswertes Zeichen: Es geht in der Politik manchmal tatsächlich mehr um die Sache als um die Person.

Die grün-rote Regierung hat Gemeinschaftsschulen eingeführt, der Realschule neue Aufgaben gegeben, die verbindliche Schulempfehlung abgeschafft, das Ganztagesangebot massiv ausgeweitet, die Inklusion behinderter Kinder eingeleitet mit der Abschaffung der Sonderschulpflicht. SPD und Grüne werden ihr Werk leidenschaftlich verteidigen - und ebenso vehement wird die CDU dagegen kämpfen.

Spitzenkandidat Guido Wolf hat bereits angekündigt, die Bildung zum zentralen Wahlkampfthema zu machen. Die Einladung zu Gesprächen über einen "Schulfrieden", also einen Konsens in Grundsatzfragen, ausgesprochen von SPD-Chef Schmid, lehnte er ab. Umfragen zeigen, dass hier der große Schwachpunkt der grün-roten Regierung ist. Und Wolf scheint entschlossen zu sein, anhand der Schulreformen angebliche grün-rote Umerziehungsmentalität und Gleichheits-Ideologie anzuprangern. "Wir brauchen eine bessere Welt, aber keine notorischen Weltverbesserer", sagte er beim politischen Aschermittwoch. Das Parteivolk jubelte.

Bildung gilt als Kernaufgabe der Landespolitik, dass darüber gestritten wird, ist nur normal. Dennoch verblüfft die Härte, mit der in Baden-Württemberg die Weltanschauungen aufeinanderprallen. Möglicherweise würde Guido Wolf nach einem Wahlsieg im stillen Kämmerlein den Grünen und Roten dankbar sein, weil er selbst nicht mehr Hand anlegen muss ans dreigliedrige Schulsystem, das sich auch in Baden-Württemberg überlebt hat wegen sinkender Schülerzahlen und der Flucht aus der Hauptschule. Aber er nutzt das Thema gerne, um den Wahlkampf anzuheizen. Und Grün-Rot hat es ihm leicht gemacht mit Projekten, die immer wieder Wellen der Empörung durchs Land schickten.

Entschärft hat die Regierung bereits die Bildungsleitlinien 2015 mit dem Oberthema "Akzeptanz sexueller Vielfalt", dennoch treibt das Thema immer noch Menschen auf die Straße und reizt die Kirchen zum Widerspruch. Schon abgeräumt hat man die Ankündigung von Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne), wegen sinkender Schülerzahlen binnen zwei Jahren jeweils 1800 Lehrerstellen zu streichen.

Gestritten wird um Geld, nicht um pädagogische Fragen

Auch sein Stellvertreter, SPD-Chef Schmid, hatte nicht das glücklichste Händchen, als er die Mannheimer Bürgermeisterin Gabriele Warminski-Leitheußer zur Kultusministerin ernannte. Sie trat Anfang 2013 auf Druck der SPD-Fraktion zurück, man warf ihr chaotische Amtsführung und schlechte Außendarstellung vor. Der Heidenheimer Jurist Andreas Stoch, bis dahin parlamentarischer Geschäftsführer der SPD, übernahm das Ressort und versucht nun, die Wogen zu glätten. Vor allem im Kulturkampf um die Gemeinschaftsschule.

Viele Konservative sehen diese Schulform mit ihrem hohen sozialen Anspruch, kein Kind zu vernachlässigen, als Wiedergänger der verhassten Gesamtschule, als Brutstätte künftiger rot-grüner Wähler. Selbstverantwortliches Lernen gibt es da, individuelle Lehrpläne, Leistungskontrolle ohne Noten, und dann auch noch ein verpflichtendes Ganztagsangebot von der fünften bis zur zehnten Klasse. Haupt- und Realschulabschluss werden angeboten, wenn möglich sogar das Abitur. Ist das der schleichende Tod von Realschule und Gymnasium, der Verfall jeglicher Bildungsstandards?

"Pure Steuerverschwendung"

Minister Stoch hat gerade 62 neue Standorte genehmigt und damit die Gesamtzahl auf 271 erhöht. Die Schulform sei "endgültig im Land angekommen", sagt Stoch. Er kann für sich in Anspruch nehmen, dass viele CDU-geführte Kommunen sich als Standort bewerben. Allerdings ist die Gemeinschaftschule für viele Kommunen der einzige Weg, trotz sinkender Schülerzahlen noch eine Schule am Ort zu halten.

Bizarrerweise streiten Regierung und Opposition weniger um pädagogische Fragen als um die Kosten. Georg Wacker, der bildungspolitische Sprecher der CDU, rechnet vor, ein Gemeinschaftsschüler koste den Staat das Zweieinhalbfache des Realschülers und das Doppelte eines Gymnasiasten. Solange der pädagogische Mehrwert der Gemeinschaftsschule nicht bewiesen sei, sei das "pure Steuerverschwendung", sagt er. Das Kultusministerium kontert mit eigenen Rechnungen, die zu einem anderen Ergebnis kommen. Bildungsmathematik, die kein Bürger begreift.

Minister Stoch spricht, wenn er durchs Land tingelt, um für die Reformen zu werben, von "Latrinenparolen" der Opposition. Dabei haben sich die Kontrahenten in einem wesentlichen Punkt angenähert. Kurz vor Weihnachten stellte Stoch sein Programm für die "Weiterentwicklung der Realschulen" vor. Sie sollen nach einer Orientierungsphase in der fünften und sechsten Klasse die Schüler entweder auf den Realschul- oder den Hauptschulabschluss vorbereiten. Dafür bekommen sie mehr Geld und 500 zusätzliche Lehrerstellen. Das klingt nach Gemeinschaftsschule light, ist aber so nah am Programm der CDU, dass diese kaum noch den Tod der guten alten Realschule an die Wand malen kann.

Frage der Macht

CDU-Kandidat Guido Wolf hat ohnehin das Problem, dass er seine Polemik gegen die grün-rote Bildungspolitik kaum mit einem eigenen Programm anreichern kann. Nach Abschaffung der verbindlichen Schulempfehlung in der vierten Klasse haben sich die Zahlen der Durchfaller in den fünften und sechsten Klassen an Gymnasium und Realschule um ein Vielfaches erhöht. Aber will man den Eltern die Wahlfreiheit wirklich wieder wegnehmen? Dass diese Forderung ausgerechnet die Liberalen am massivsten vertreten, ist eine besondere Ironie in dem Schulkulturkampf.

Auch der Sinn der Ganztagsbetreuung bleibt umstritten. Gehört der Nachmittag zum regulären Schulbetrieb, wie Minister Stoch das will, oder sollen die Kinder bloß beschäftigt werden, bis sie von den Eltern zu einer beliebigen Zeit abgeholt werden? Nur in einem Punkt hat CDU-Kandidat Wolf sich festgelegt: Die Gemeinschaftsschulen will er zwar nicht mehr abschaffen, aber er will keine neuen mehr genehmigen. Immer mehr Elternvertreter wünschen sich angesichts dieses Hin und Her einen "Schulfrieden". Aber den wird es nicht mehr geben bis März 2016. Die Bildung ist zu einer Frage der Macht geworden.

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