Bildung in Europa:Wie die Universität zur Massenware wurde

Rechenzentrum statt Rhetorik, Leistungspunkte statt Latein: Die Bildung hat sich in Europa über Jahrhunderte gewandelt. Heute ist vieles einfacher, aber nicht alles besser als früher.

Burkhard Müller

Bildungs- und Arbeitsmarktpolitik werden die Zukunft Europas entscheiden. Was treibt Spaniens protestierende Jugend an? Wie können Bildungssysteme voneinander lernen? Was wird aus dem Bologna-Prozess? Die Süddeutsche Zeitung widmet diesen Fragen ein Dossier, das in Zusammenarbeit mit El País, The Guardian, Gazeta Wyborcza, La Stampa und Le Monde entstanden ist. Das Dossier finden Sie auf dieser Seite.

Doktorhut, Universität, Uni

Vom Privileg zur Massenware: Heute studieren in Europa so viele Menschen wie nie zuvor.

(Foto: dpa)

Die Bildung begann als reines Vergnügen. Griechisch scholê (das s und das ch sind getrennt zu sprechen) bedeutet Muße, Freizeit, dort ging man gern von sich aus hin, wenn die lästigen Pflichten erledigt waren. Der Ort, an dem man sich zusammenfand, war das gymnaseion, abgeleitet von gymnos, nackt, denn in erster Linie handelte es sich um den sportlichen Wettkampf, und dort erstrahlte die Herrlichkeit der klassischen Körper ohne störende Verhüllung. Außerdem traf man dort Leute, mit denen sich zu sprechen lohnte, man lauschte den Diskussionen und der Dichtkunst; und besonders schlossen sich, mit deutlich erotischem Akzent, die lernbegierigen Jünglinge den erfahrenen Männern an.

Systematischen Charakter erlangt diese Idee von Bildung im vierten Jahrhundert vor Christus, mit Platon, der bei Athen im Hain des Zeus Akademos seine Akademía errichtete. Ihrem Vorbild folgten alle Philosophenschulen, die nun nach und nach entstanden. Philosophie, das war damals noch nicht das eng umgrenzte Fach, das sie heute ist, sondern der Inbegriff dessen, was man wissen konnte und wie man leben sollte.

Der Philosoph in seinem Streben nach der Wahrheit schloss die Mathematik, Musik, Literatur und Rhetorik in seine Studien ein, auch die Naturwissenschaft, soweit die Antike so etwas überhaupt betrieb. Nur die praktischen Fertigkeiten hatten hier nichts zu suchen; den Handwerker, banausos, verachteten die Griechen.

Dieses Bildungsideal war wiederum den Römern höchst suspekt. Ein tüchtiger Römer hatte sich zu interessieren für Militär, Politik, Recht, Ackerbau, Geschichte (nämlich die ruhmreiche Geschichte des römischen Volkes), höchstens noch für Architektur und Ingenieurskunst. Nur in einem Punkt berührten sich griechische und römische Vorstellungen: in der Hochschätzung der Redekunst, die auch die Römer brauchten, wenn sie vor Gericht oder im Senat auftraten.

Bildung ist Redekunst

Cicero, griechisch geschult, versuchte seinen Landsleuten im ersten Jahrhundert vor Christus die griechische Bildung schmackhaft zu machen, indem er sie als unerlässlich zur Schulung des perfekten Redners erklärte. Langsam kam das große klassische griechisch-lateinische Doppelprojekt voran, von dem Europa so lang zehren sollte.

So sah die Höhenlinie der Bildung im Altertum aus. Aber natürlich musste man auch damals mit den Kindern anfangen. Bei den Griechen wurden die Grundschulen manchmal von der Gemeinde unterhalten, bei den Römern aber blieben sie lange privat, und die Schüler brachten dem Lehrer zur Monatsmitte acht As Schulgeld mit, eine eher bescheidene Summe. So angesehen die Lehrer der Philosophie und Rhetorik oft waren, die Lehrer an diesen Elementarschulen genossen nur geringen Respekt und übten ihr Amt mit dem Rohrstock aus - die vielleicht beständigste Konstante des europäischen Schulwesens.

Ohne Schläge, glaubte man, würde sich den Schülern nicht hinlänglich einprägen, was sie in ihren Fibeln lasen, laut und im Chor. Das leise Lesen stellt eine junge Errungenschaft dar. Und immer waren die Mädchen im Nachteil; wo sie an Bildung partizipierten, da verdankten sie es meist einer Vergünstigung ihrer Väter. Es hat in Europa immer hochgebildete Frauen gegeben. Doch blieben sie lange Einzelerscheinungen, angestaunt wie die Mondkälber.

Die Kirche wird zur Bildungsanstalt

Am Ende der Antike verwandelte sich das Leben von Grund auf. Die analphabetischen Germanen überfluteten das Römische Reich, und die heidnischen Götter mussten dem Christentum weichen. Das Mittelalter kannte nur eine Einrichtung, von der Bildung und Tradition getragen wurden: die Kirche. Wenn die Klosterschulen Lesen und Schreiben lehrten, so hieß das: Latein. Denn noch lange sollten die europäischen Volkssprachen so gut wie schriftlos bleiben.

Lateinisch war die Heilige Schrift (dass das Neue Testament eigentlich auf Griechisch abgefasst war, geriet in Vergessenheit), lateinisch verständigte sich die Gemeinschaft der Kleriker und Gebildeten, die ganz Europa umfasste, wenngleich ihr nur ein Bruchteil der Bevölkerung angehörte. Nie wieder war die europäische Bildungslandschaft so einheitlich wie im Mittelalter.

Auch die Lehrpläne wiesen einen ziemlich einheitlichen Zuschnitt auf. Sobald der Elementarunterricht vorüber war, traten die Schüler ins Reich der sieben freien Künste ein, der septem artes liberales. Frei hießen sie, weil das Intellektuelle höher stand als alle praktischen Kenntnisse; dieser Hochmut blieb der europäischen Bildung lange erhalten. Man begann mit dem Trivium, der Dreiheit aus Grammatik, Rhetorik und Dialektik; die Rhetorik lieferte eine Einführung in die Literatur, die Dialektik in die Philosophie. Daran schloss sich das Quadrivium: Arithmetik, Geometrie, Musik und, bemerkenswerterweise, Astronomie.

Wie sich Bildung spezialisiert

Erst im hohen Mittelalter traten neben den Klosterschulen die Universitäten hervor. Den Anfang machte im elften Jahrhundert Italien mit Salerno und Bologna (von hier hat also schon einmal ein Bildungsprozess seinen Ausgang genommen), um 1200 entsteht als wichtigste europäische Universität die Pariser Sorbonne. Die "deutschen Lande" (von Deutschland kann noch keine Rede sein) hinken wie immer etwas hinterher, hier dauert es bis ins 14. Jahrhundert, ehe in Prag, Heidelberg, Köln, Erfurt die ersten Hochschulen gegründet werden. Dafür gibt es später nirgends so viele Universitäten wie bei uns.

Was lernt man dort? Früh bildete sich ein System aus vier Fakultäten heraus. Jura und Medizin dienen unmittelbar der Berufsausbildung. Die Philosophie bleibt, wie in der Antike, ein Sammelbecken; erst im 19. Jahrhundert emanzipierten sich die Naturwissenschaften von ihr, bis heute gehören die Geisteswissenschaften sämtlich der Philosophischen Fakultät an. Ihre Leitfunktion jedoch muss sie an die Theologie abtreten, der neuen Königin der Disziplinen; die Philosophie hat sich als deren Magd (ancilla) zu bescheiden.

Zentren der Forschung sind die Universitäten in der Regel nicht. Obwohl sie irgendwie auf die rasante Zunahme des Wissens reagieren müssen, sperren sie sich, so gut sie können, gegen Veränderungen in ihren Curricula, und bilden Bollwerke des Konservatismus. Mit Erstaunen hört man, dass es lange so etwas wie ein organisiertes Prüfungswesen nicht gab und dass die Studenten, die sich ganz wie die Herren ihrer Hochschulen fühlten und mit ihrem prahlerischen Gehabe den Unmut der Bürger erregten, von der regulären Gerichtsbarkeit ausgenommen waren; für Verfehlungen konnten sie höchstens in den universitätseigenen Karzer wandern.

Neuer Schwung durch die Lateinschulen

Die entscheidenden Reformen gingen an der Schwelle zur Neuzeit von den Schulen aus, genauer von den bürgerlichen Lateinschulen. Die Bewegung des Humanismus, die im 14. Jahrhundert in Italien entstand und um 1500 ganz Europa erreicht hatte, bewirkte, dass sich das von mündlichem und kirchlichem Sprachgebrauch bestimmte Latein des Mittelalters wieder an den klassischen Autoren schärfte; auch das Griechische kam neuerdings zu Ehren.

Zugleich erwachten die Volkssprachen aus ihrem langen Schlummer und traten ins volle Licht der Schriftlichkeit. Das hatte den Vorteil, dass nun viel mehr Menschen an Bildung und Literatur teilhaben konnten, aber auch den Nachteil, dass die europäische Kulturlandschaft sich in viele Einzelräume aufzulösen begann. In Deutschland spielte Luther mit seiner Bibelübersetzung die entscheidende Rolle. Der gerade aufkommende Buchdruck ermöglichte es, dass neue Ideen und Kenntnisse sich viel rascher und weiter verbreiteten. Das 16. Jahrhundert bringt eine allgemeine Bildungsexplosion.

Im 18. Jahrhundert wird die Aufklärung zum Massenphänomen, und einher mit ihr geht die Erfindung der Pädagogik; für sie wird 1770 in Halle der erste Lehrstuhl eingerichtet. Ganz falsch sei es, verkünden Lehrer wie Basedow in Deutschland und Pestalozzi in der Schweiz, das Kind wie einen kleinen Erwachsenen zu behandeln; kindgemäß müsse der Unterricht sein! Basedow gründet das Dessauer Philanthropinum; Pestalozzi, der an Rousseau und dessen Devise "Zurück zur Natur!" anknüpft, versucht es mit einer Art landwirtschaftlich ausgerichtetem Internat. Aber allgemeine Praxis wird das noch lange nicht.

Der Staat als Bildungsdienstleister

Ab dem 18. und besonders im 19. Jahrhundert begann der Staat, es als seine Aufgabe zu begreifen, dass alle Kinder ein Minimum an Schulbildung erhalten sollen. Die Volksschule entstand und mit ihr die Schulpflicht - oft parallel mit der Wehrpflicht, denn so fürsorglich die Bildungsmaßnahmen erscheinen, sie haben immer etwas mit dem verstärkten staatlichen Zugriff auf die Bürger zu tun. Einen Rekruten kann man nur einziehen, wenn er in der Lage ist, seinen Gestellungsbefehl zu lesen.

Das Lehrziel bestand nun in dem, was auf Englisch die three Rs heißt: reading, writing, 'rithmetics. Lesen, Schreiben und Rechnen also, wozu als viertes R noch fast überall die Religion trat. Es erforderte lange Kämpfe, bis die Kirchen ihr Bildungsmonopol aufgaben. Ein Lehrer genügte oft für eine Schule, die verschiedenen Klassenstufen saßen beieinander. Vielerorts blieb das so bis weit nach dem Zweiten Weltkrieg.

Rasanter Aufschwung der Universitäten

Gleichzeitig erlebt die universitäre Bildung einen ungeheuren Aufschwung. Hatte es im 15. Jahrhundert 29 Universitäten in ganz Europa gegeben, so sind es am Ende des 18. Jahrhunderts schon 143. Drei Modelle treten hervor, die bis heute ihre vorbildliche Rolle behaupten. In Deutschland konzipiert Wilhelm von Humboldt die neu gegründete Universität Berlin als einen Ort, in dem nicht mehr blind Tradition weitergereicht wird, sondern lauter Einzelne im Gespräch miteinander Wahrheit und Forschung voranbringen.

In Frankreich wird ein zentralistisches System mit strengen Prüfungen geschaffen, das der Staat in seine Regie nimmt. Großbritannien (an dem sich dann vor allem Amerika sein Beispiel nimmt) erweist sich wie immer grundsätzlichen Reformen als abhold und behält in modifizierter Form das mittelalterliche Kollegsystem von Cambridge und Oxford bei, mit dem Akzent auf seiner dezentralen Autonomie.

Was die Schulen betrifft, so bringen die Anforderungen der neuen Zeit die alte klassische Bildung ins Wanken. Zwar behaupten lange noch der Latein- und der Griechisch-Unterricht ihre bevorzugte Stellung, und als Inbegriff der Bildungsreife gilt der lateinisch verfasste Abitur-Aufsatz. Aber gegen diesen weltfremden Lehrplan begann sich seit Mitte des 19. Jahrhunderts Widerstand zu regen. Die neuen Erkenntnisse der Naturwissenschaften und die neuen Berufsbilder verlangten ihr Recht. Ein Schüler, der Kaufmann werden wollte, benötigte Buchführung und keinen Homer. So entstanden Technische Schulen und Realschulen als Alternativprogramm.

Streit über die richtige Schulzeit

Wie lang sollen junge Menschen in der Schule verweilen, und wann soll man anfangen, sie nach Begabung und Interessen zu sortieren? Während sich bei der ersten Frage fast alle europäischen Länder einig sind und die Dauer der Schulpflicht langsam aber stetig von zunächst zehn oder elf auf fünfzehn bis sechzehn Jahre steigt, gibt es im zweiten Punkt große Differenzen.

In Deutschland blieb bis vor kürzester Zeit das dreigliedrige System aus Hauptschule, Mittel-oder Realschule und Gymnasium bestehen. Viele andere Länder optierten für das Modell der Highschool oder Gesamtschule, das die Schüler bis zur 12. Klasse beieinander lässt. Schwer können sich die Bildungsplaner verständigen, ob jedem das Seine oder jedem das Gleiche gebührt.

Überall jedoch hat sich das Gesamtvolumen der Bildung vervielfacht. Anreize und Möglichkeiten wurden geschaffen, damit auch Kinder aus bildungsfernen Schichten höhere Schulen und Universitäten besuchen konnten. Die Lehrerausbildung wurde deutlich verbessert, auch die Bezahlung.

Bildung als Massenware

Trotz der Protestbewegung von 1968, die "unter den Talaren / den Muff von tausend Jahren" beklagte, blieb es hauptsächlich bei den alten Strukturen, die sich multiplizierten. Dutzende neue Universitäten, Tausende neue Schulen schossen aus dem Boden, bis heute vielerorts kenntlich an ihrer Betonbauweise und den Flachdächern, die so anfällig sind für Wasserschäden: Es wurde einfach derart viel auf einmal gebraucht, dass zuweilen die Qualität litt.

Heute ist die höhere Bildung überall in Europa ein Massenphänomen geworden, im Guten wie im Schlechten. Mehr junge Menschen als je zuvor partizipieren daran. Doch ist häufig ungewiss, was sie davon haben, zu was es sie befähigt, und welche Bedingungen zum Start ins Leben sie ihnen verschafft. Wie es ein Bildungstheoretiker einmal formuliert hat: Als die Privilegien für alle zugänglich wurden, da waren es keine mehr.

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