Agenda 2017:So kann Schule besser werden

Schule Agenda 2017

Was muss sich in Deutschlands Schulen ändern?

(Foto: dpa)

"Es muss doch anders gehen!" Dieser Gedanke begleitet viele frustrierte und unzufriedene Eltern von Schulkindern. Wir haben analysiert, welche Wünsche es an die Bildungspolitik gibt - von Grundschule bis Abitur.

Von Johanna Bruckner

Wenn Jugendliche eine 40-Stunden-Woche haben und Eltern das Gefühl mehr Nachhilfelehrer als Mutter und Vater zu sein, dann muss sich etwas ändern im Bildungssystem. Wir haben Sie, die SZ.de-Leser, gefragt: Was läuft falsch an den Schulen? Und wie könnte man den Weg von der Einschulung bis zum Abschluss besser machen? Schüler, Lehrer und Eltern haben in unserer Online-Diskussion mitdebattiert, wir haben Ihre Kritikpunkte und Wünsche analysiert. Drei Forderungen an die Bildungspolitik:

Recherche

Nach der Bundestagswahl haben wir das Projekt Agenda 2017 gestartet. Dieser Text ist Teil einer Reihe von Beiträgen, die den Abschluss dieser Sonderausgabe von Die Recherche bilden. Alles zur Agenda 2017 finden Sie hier, alles zum Format Die Recherche hier.

1. Grundschule neu denken

Zehn Jahre. So alt beziehungsweise jung sind die meisten Kinder in Deutschland, wenn sich ihre schulische Zukunft entscheidet. In 14 von 16 Bundesländern findet der Übertritt von der Grundschule auf die weiterführenden Schulen zum Ende von Klasse vier statt. Wobei die Präferenz der Eltern ganz klar ist: Das Gymnasium gilt als der Königsweg der schulischen Bildung. In den vergangenen 60 Jahren hat sich die Übertrittsquote verdreifacht und liegt heute im bundesdeutschen Schnitt bei knapp 40 Prozent.

Zu den Gründen sagt SZ-Leserin Ruth Schwegmann, zweifache Mutter aus München: "Mittlerweile wollen alle Eltern, dass ihr Kind aufs Gymnasium geht, denn ohne Abitur und Studium hat es kaum Chancen auf dem Arbeitsmarkt." Diese Überzeugung scheinen viele Mütter und Väter zu teilen - dementsprechend hoch ist das Stresslevel in vielen Familien mit Viertklässlern, das weiß auch Robert Roedern zu berichten. "Da werden Erwartungshaltungen und Druck an die Kinder weitergegeben, bewusst oder unbewusst", sagt der Grundschullehrer, der auch als Schulpsychologe für Staatliche Schulberatung in Bayern tätig ist. SZ-Leser Josef Lieser beobachtet gar eine "Massenhysterie" in der vierten Klasse seines Kindes.

Darunter leiden vor allem die Schülerinnen und Schüler. "Eine Weichenstellung in der vierten Klasse ist absolut nicht kindgerecht", findet Robert Straßheim, Vater von drei Kindern, und fragt stellvertretend für viele Eltern: "Aus welchem Grund glaubt man in Deutschland, so früh zu sortieren zu müssen?"

Bildung schafft Arbeit

Das Grundgerüst des deutschen Schulsystems ist seit etwa 100 Jahren gleich. In der Weimarer Republik wurde die vierjährige Grundschule innerhalb der Volksschule als verpflichtende Ausbildung eingeführt. Eine längere Grundschule wäre wohl kaum durchsetzbar gewesen, denn viele Eltern hätten sich das aus ökonomischen Gründen nicht leisten können. Kinder wurden als Arbeitskräfte zur Sicherung des Lebensunterhalts gebraucht.

Doch diese Strukturen haben sich längst geändert. Heute gilt nicht mehr: Arbeit schafft Auskommen. Vielmehr ermöglicht Bildung den Zugang zu Arbeit und sichert damit den Lebensunterhalt. Viele Eltern haben das erkannt und setzen darauf, dass eine sechsjährige Grundschule ihren Kindern mehr Bildungschancen ermöglichen würde. Allein es fehlt vielfach der politische Wille, außerdem erschweren Föderalismus und Kulturhoheit der Länder eine flächendeckende Grundschulreform. Dass es auch anders gehen kann, machen Berlin und Brandenburg vor, wo die Grundschule zumindest sechs Jahre dauert. (Vergleichbare Modellprojekte gibt es auch in anderen Bundesländern, zum Beispiel in Hessen.)

In Berlin ist die sechsjährige Grundschule seit Jahrzehnten etabliert. In den ersten beiden Klassen wird jahrgangsübergreifend gelernt. Schüler, die besonders weit sind, können bereits nach der ersten Klasse in Jahrgangsstufe drei wechseln; wer länger braucht, kann die sogenannte "Schulanfangsphase" auch in drei Jahren absolvieren, ohne dass ihm der Makel des Sitzenbleibens haften bleibt. Parallel ist es auch möglich, nach vier Jahren auf ein Gymnasium oder eine integrierte Gesamtschule - die beiden Säulen der Sekundarstufe I in Berlin zu wechseln. (Welche Kritik es an der sechsjährigen Grundschule in Berlin gibt, lesen Sie hier.)

"Das ist doch nicht gerecht!?"

Hinzu kommt der massive Leistungsdruck, nicht nur mit Blick auf die Noten am Ende der vierten Klasse. Zwar entscheiden in Baden-Württemberg und zehn weitere Bundesländer im Zweifelsfall nicht mehr die schulischen Leistungen eines Kindes darüber, ob es den Sprung aufs Gymnasium schafft, sondern die Eltern. Doch diese Maßnahme erhöht den Druck auf Viertklässler bisweilen nur noch. Davon abgesehen, stellt sich der Abiturient Kassem Taher Saleh die Frage, wie gerecht eine Grundschule ist, in der es maßgeblich auf die familiäre Unterstützung ankommt: "Ohne die elterliche Hilfe würden nur wenige Kinder den Weg aufs Gymnasium finden. Das ist doch nicht gerecht!?"

Die bildungspolitische Diskussion hat sich in den vergangenen Jahren am G8 aufgerieben. Auch in der Kultusministerkonferenz ging es vornehmlich um Lösungen für andere Probleme: die Lehrerausbildung soll bundesweit einheitlicher werden, das Abitur vergleichbarer, et cetera. Nun müssen sich die Landesregierungen auch um die Grundschule kümmern und Modellprojekte für die sechsjährige Grundschule sollten auf den Weg gebracht werden - damit sich der Übertrittsdruck auf Schüler und Eltern verringert.

Ganztagsschulen - nicht nur die Menge macht's

2. Mehr und bessere Ganztagsschulen

Der Ausbau der Ganztagsschulen steht seit einem Jahrzehnt oben auf der bildungspolitischen Agenda: Bund, Länder und Kommunen arbeiten seit 2003 gemeinsam an einem flächendeckenden Angebot von ganztägigen Betreuungsangeboten. Doch im Wörtchen "Betreuung" steckt schon die Crux des Prestigeprojekts: Reicht es, wenn Kinder und Jugendliche am Nachmittag beaufsichtigt werden, damit berufstätige Eltern entlastet werden? Oder sollte Ganztagsschule den Nachmittag so gestalten, dass Schüler auch etwas lernen, ja vielleicht sogar gezielt gefördert werden?

An diesen Fragen entscheidet sich, inwieweit die Bemühungen der vergangenen Jahre als Erfolg gewertet werden. Die Zahlen, die jüngst der Aktionsrat Bildung vorgestellt hat, scheinen für sich zu sprechen: Mehr als die Hälfte aller Schulen bietet inzwischen ein Ganztagsprogramm an. Ein Drittel aller Schüler isst an mindestens drei Tagen in der Woche in der Schule zu Mittag und geht erst am Nachmittag nach Hause. Doch nach wie vor ist der Bedarf höher als das Angebot: Denn 70 Prozent der Eltern wünschen sich, dass ihre Kinder auch über den Mittagsgong hinaus betreut werden.

Die Arbeit ist also nicht getan. Zumal sich spätestens mit einer flächendeckenden Versorgung an Ganztagsschulplätzen eben auch die Qualitätsfrage stellt. Der Aktionsrat plädiert für mehr sogenannte gebundene Angebote. Das heißt im Prinzip, Unterrichtsinhalte werden nicht nur in den Vormittag gelegt, sondern über den gesamten Tag verteilt. Am Nachmittagsprogramm nehmen alle Schüler teil. Dadurch, so die Überzeugung des Expertengremiums, würden insbesondere Kinder mit Migrationshintergrund und aus sozial schwachen Familien besser gefördert, eventuelle Defizite in der elterlichen Schulbegleitung (bei der Hausaufgabenbetreuung zum Beispiel) ausgeglichen.

Ist das gebundene Modell das bessere?

Allerdings sehen andere Experten den Beweis noch nicht erbracht, dass gebundene gegenüber offenen Angeboten zu bevorzugen sind. So sagte Natalie Fischer, die am Deutschen Institut für Internationale pädagogische Forschung (DIPF) eine Langzeitstudie zur Entwicklung von Ganztagsschulen leitet, im Gespräch mit der SZ: "Es gibt keine empirischen Belege dafür, dass die gebundene Ganztagsschule für die Leistung oder das Sozialverhalten der Schüler besser ist als die offene." Darüber hinaus stellt sich auch die Frage, ob Kinder und Jugendliche einen durchgetakteten Tag vergleichbar mit dem eines Arbeitnehmers haben sollten. Oder ob es ihrer persönlichen Entwicklung nicht förderlicher ist, wenn sie - zumindest bis zur Oberstufe - am Nachmittag auch Zeit zur freien Gestaltung haben.

Dass Ganztagsschulen die Regel werden müssen, darüber sind sich aber alle Experten einig. Deshalb sollte auch die Bundesregierung den Ausbau weiter mit Nachdruck vorantreiben und sich verstärkt Gedanken um die inhaltliche Ausgestaltung des Nachmittagsprogramms an den Schulen machen.

Welches Abitur hätten Sie denn gerne?

3. Mehr Zeit fürs Abitur

Kein Thema der Bildungspolitik wurde in jüngerer Vergangenheit so kontrovers diskutiert wie das achtjährige Gymnasium, kurz: G8. Überforderte Schüler, überforderte Lehrer, überforderte Eltern - von allen Seiten wurde das "Turbo-Abi" seit der Einführung in Westdeutschland vor etwa zehn Jahren scharf kritisiert. Auch im SZ.de-Chat erhitzte das Thema die Gemüter.

Weitgehend gleiche Lehrpläne, die in kürzerer Zeit durchgenommen werden müssen - "ohne elterliche Unterstützung und Nachhilfe" sei dieses Pensum nicht zu schaffen, so das Urteil von Ruth Schwegmann, deren Tochter zum ersten Jahrgang G8 in Bayern gehörte. Marlis Tepe, Vorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissen (GEW) betont, G8 sei zugleich "eine große Herausforderung für die Lehrer" gewesen, die die als "nicht durchdacht" empfundene Reform umsetzen mussten und müssen.

Zwar wurde nachjustiert, Lehrpläne wurden entschlackt, doch die gefühlte Unzufriedenheit mancherorts ist nach wie vor groß. In Bayern gärt es besonders, vielleicht auch, weil das Abitur hier ohnehin schon den Ruf hatte, anspruchsvoll zu sein. Um die Gemüter zu beruhigen, gibt es deshalb seit diesem Schuljahr für Gymnasiasten die Möglichkeit, in der Mittelstufe ein zusätzliches Jahr einzulegen - G9 durch die Hintertür.

Die Wahl der Eltern

Andere Bundesländer, darunter Schleswig-Holstein, Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen, Hessen und Baden-Württemberg bieten zumindest an einigen staatlichen Gymnasien mittlerweile parallel G8 und G9 an. In Baden-Württemberg lässt sich dabei ein klarer Trend feststellen: Wenn die Eltern wählen können, entscheiden sich 90 Prozent für die um ein Jahr längere Variante.

Markus Schlimm, zweifacher Vater aus Köln nennt einen elterlichen Beweggrund für diese Präferenz: "Gerade die Oberstufe ist für die Entwicklung des selbstständigen Denkens und der Diskussionsfähigkeit besonders wichtig." Auch der Gymnasiallehrer Robert Klein plädiert für ein Gymnasium mit Muse: "Lasst den Kindern Zeit zur Entwicklung! Nach meinen Erfahrungen sollten wir angesichts einer steigenden Wissensmenge und größerer Entwicklungsdefizite eher über G10 diskutieren."

Dieser Leserbeitrag weist auf eine entscheidende Entwicklung im Bildungsbereich hin. Die pädagogische und elterliche Mehrheitsmeinung geht heute dahin, dass Schule nicht mehr in trennscharfen Abschnitten (Grundschule, weiterführende Schule) gedacht werden darf - ja vielleicht nicht mal mehr in Klassen. Vielmehr ist der Wunsch da nach fließenden Übergangen, die dem individuellen Lerntempo jedes Schülers gerecht werden und jedem die Chance auf den Abschluss seiner Wahl ermöglichen. Das ist keine Absage an G8, sondern das Plädoyer für ein flexibles Gymasium.

Boom der Gesamtschulen

In jenen Bundesländern, in denen es sowohl G8 als auch G9 gibt, sind es häufig die Gesamtschulen, die dieses Angebot machen. In Schleswig-Holstein sollen künftig sogar nur Gesamtschulen G9 anbieten dürfen. In Niedersachsen hat das zu einem kleinen Boom der bisher eher nachrangigen Schulform geführt.

Auch Eltern, die ihre Kinder bislang ganz selbstverständlich am Gymnasium eingeschrieben haben, denken um. Sie wollen ihren Nachwuchs nicht dem Druck des Turbo-Abis aussetzen und weichen deshalb vom klassischen Weg zur Hochschulreife ab. Das setzt die Gymnasien langfristig unter Zugzwang: Sie können nicht mehr wie selbstverständlich davon ausgehen, dass die gewünschte Klientel zu ihnen kommt, sondern müssen sich um Schüler bemühen. Das könnte im besten Fall dazu führen, dass die Gymnasien ihr pädagogisches Programm erweitern und sich für eine breitere Schülerschaft öffnen.

Sollte dieser Trend auch in anderen Bundesländern Schule machen, könnte das außerdem das Image von Gesamtschulen verbessern. Diese hatten in Leistungstests bislang eher schlecht abgeschnitten - was Experten wiederum darauf zurückführten, dass leistungsstarke Schüler von ihren Eltern klassischerweise aufs Gymnasium geschickt werden.

Der durch G8 verursachte Unmut könnte also eine echte Chance für ein zweigliedriges System weiterführender Schulen (bestehend aus Gymnasien und Gesamt- bzw. Sekundärschulen) sein - und damit für ein gerechteres Schulsystem insgesamt. Denn sowohl leistungsstarke als auch -schwächere Schüler hätten die Chance aufs Abitur. Und das ohne Umwege.

Allerdings: Damit das deutsche Bildungssystem insgesamt gerechter wird, muss die Politik bei den ganz Kleinen anfangen umzudenken - und darf diesen Gedanken bis zum Schulabschluss nicht verlieren.

Recherche

Dieser Artikel bildet den Abschluss des Themenstrangs "Kitas und Schulen" unserer Agenda 2017. Angesichts der Vielzahl von Ideen, die Leser via Mail, Facebook, Twitter oder in der Online-Debatte vorgeschlagen haben, konnten wir nicht alle in diesem Text aufgreifen. Er soll ohnehin eine Anregung zum Weiterdiskutieren sein: Debattieren Sie in den Kommentaren, via Twitter oder in unserer Facebook-Gruppe oder mailen Sie uns. Wer sich noch weiter in das Thema einlesen will, findet hier eine Materialsammlung zur Bildungs- und Familienpolitik.

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