Innovative Wissensvermittlung:Schule der offenen Türen

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Lernlandschaften statt Sitzreihen, Teamwork statt Lehrermonolog: Das Gymnasium in Oettingen geht komplett neue Wege der Wissensvermittlung - mit viel Erfolg. Das Projekt ist so besonders, dass sogar der Bildungsausschuss des Landtages in der Schule tagt.

Tina Baier

Von außen sieht das Albrecht-Ernst-Gymnasium im nordschwäbischen Oettingen aus wie viele Schulen in Bayern. Doch im Inneren des Zweckbaus mit Flachdach geht etwas vor sich, das die Mitglieder des Bildungsausschusses im Landtag so neugierig gemacht hat, dass sie ihre Sitzung an diesem Donnerstag dorthin verlagert haben. Sie werden etwas Außergewöhnliches zu sehen bekommen - in einer ganz gewöhnlichen staatlichen Schule.

Im Albrecht-Ernst-Gymnasium wird die fünfte und sechste Jahrgangsstufe nicht mehr in herkömmlichen Klassenzimmern unterrichtet, sondern in sogenannten Lernlandschaften: Um ein Forum im Zentrum gruppieren sich vier Räume, die von allen Seiten gut einsehbar sind, Türen gibt es nicht. Auffallend ist die ruhige Atmosphäre, in der etwa 100 Kinder konzentriert arbeiten. "Mir ist wichtig, dass die Kinder gern zur Schule gehen und mit Freude lernen", sagt die Schulleiterin Claudia Langer.

Die 5d startet gerade ein fächerübergreifendes Projekt in Deutsch und Geographie. Die Kinder sitzen auf Polstern oder auf dem Boden im Kreis um ihre Lehrerin Linda Lutter. In den nächsten Wochen sollen sie in Dreier- oder Vierer-Teams Themen bearbeiten wie "Theodor Storm und die deutsche Küste". Dabei werden sie Texte von Storm lesen, aber auch etwas über Ebbe und Flut lernen. Zum Abschluss soll jedes Team den anderen aus der Klasse präsentieren, was es erarbeitet hat.

Sehr konkrete Anweisungen

Lutter verteilt die ersten Arbeitsblätter. Sehr konkrete Arbeitsaufträge stehen darauf, beispielsweise: "Schreibt einen Steckbrief über das Leben Theodor Storms." An vielen Stellen gibt es Hinweise, wie die Schüler an die Informationen kommen, die sie brauchen. Im Internet oder mit Hilfe der zahlreichen Unterrichtsmaterialien in den Regalen, die für alle frei zugänglich sind. Als es nach anderthalb Stunden gongt, maulen einige: "Was? Schon zu Ende?" Für eine Lehrerin dürfte es kaum ein schöneres Kompliment geben. "Die Schüler machen solche Projekte gern." sagt Lutter. "Sie merken gar nicht, wie ihnen dabei der Stoff aus dem Lehrplan untergejubelt wird."

Angefangen hat alles mit der Überlegung, wie Lernen eigentlich funktioniert. "Ich kann die Inhalte nicht durch Reden in die Köpfe der Kinder transferieren", sagt der stellvertretende Schulleiter Günther Schmalisch. Er ist überzeugt, dass sich echtes Wissen, das nicht nur bis zur nächsten Schulaufgabe, sondern auf Dauer abrufbar ist, am besten durch Eigenaktivität erwerben lässt - also durch selbständiges Lernen.

Willkommener Nebeneffekt: "Unterrichtsausfall ist bei uns kein Thema", sagt Langer. Weil die Schüler selbständig arbeiten, ist es für die Lehrer kein Problem, die Klasse eines kranken Kollegen mit zu betreuen. Allerdings sei jeder Lehrer verpflichtet, für diesen Fall vorzusorgen und Material zur Verfügung zu stellen.

Die Vorbereitung der Arbeitsblätter, die es für jeden Themenbereich in verschiedenen Schwierigkeitsgraden gibt, ist aufwendig. Doch auf Dauer trage diese Form des Unterrichtens auch zur Entlastung der Lehrer bei, glaubt Langer. Auch weil die jeweiligen Fachlehrer einer Jahrgangsstufe in Teams zusammenarbeiten und dasselbe Material nutzen können. "Früher hat jeder Lehrer für sich für seine Schüler denselben Stoff aufbereitet. Niemand in der Wirtschaft würde so arbeiten."

Genügend Zeit zum Lernen

Auch die zahlreichen Studien, die belegen, dass Schüler unter Angst und Druck schlechter lernen als ohne diese Stressfaktoren, hat das Team in Oettingen ernst genommen. Das gefürchtete Abfragen zu Beginn jeder Stunde und die vielen unangekündigten Exen wurden kurzerhand abgeschafft. "Die Kinder kommen zum Lehrer, wenn sie sicher sind, ein Themengebiet zu beherrschen, und sagen, dass sie einen Test schreiben wollen", sagt Schmalisch. Es sei wie bei der Führerscheinprüfung: Ob jemand sich nach zwölf oder nach 30 Fahrstunden anmeldet, ist unwichtig - Hauptsache, er kann fahren. "Das Verhältnis zu meinen Schülern ist viel besser, seit sie wissen, dass ich nicht ständig mit irgendwelchen Tests ums Eck komme", sagt Lutter.

Der 45-Minuten-Rhythmus, in dem Schüler und Lehrer normalerweise durch die bayerischen Gymnasien hetzen, ist in Oettingen einem ruhigeren 90-Minuten-Rhythmus gewichen. Schmalisch beschreibt, wie eine typische 45-Minuten-Stunde aufgebaut ist: "Zuerst begrüßen sich Schüler und Lehrer, dann werden die Hausaufgaben besprochen und dann wird neuer Stoff durchgenommen. Wenn dann das eigentliche Lernen losgehen würde, ist die Stunde zu Ende." Das müssten die Schüler dann allein zu Hause leisten. In den 90-Minuten-Einheiten sei dagegen genug Zeit, neuen Stoff zu vertiefen oder auch einmal einen Übungsaufsatz zu schreiben. "Ich habe seit Jahren keine Deutsch-Hausaufgaben mehr aufgegeben", sagt er.

Derzeit überlegen sie in Oettingen, wie es in der Mittelstufe weitergehen könnte mit dem neuen Konzept. Eine Umfrage unter den Schülern hat ergeben, dass sich die Älteren mehr Rückzugsmöglichkeiten und Nischen wünschen, in denen sie in Kleingruppen lernen können. "Das klingt gut", findet Langer. Ihr Ziel ist es, nach und nach alle Jahrgangsstufen bis zur zwölften Klasse umzugestalten.

© SZ vom 01.03.2012 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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