Hochschulen in Ungarn:"Wer hat dein Diplom bezahlt, Viktor Orbán?"

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Ungarns konservative Führung nimmt die Hochschulen an die Kandare - die Studentenzahlen sollen sinken, Geld wird künftig nach politischen Kriterien verteilt. Und dabei klangen die Versprechungen von Regierungschef Orbán einst verheißungsvoll für angehende Akademiker.

Cathrin Kahlweit

Viktor Orbán triumphierte an jenem Wahlabend: "Gut gemacht, Ungarn", rief der heutige Regierungschef und damalige Oppositionsführer, das war im März 2008. Mit mehr als 80 Prozent hatten Ungarns Wähler damals Studiengebühren abgelehnt; die Wahlbeteiligung bei der von der Opposition beantragten Volksabstimmung war ungewöhnlich hoch gewesen. Mittlerweile ist Orbán Premier und kann mit satter Mehrheit regieren.

Der Kampf gegen Gebühren mehrte vor vier Jahren seinen Ruf als Schüler-, Studenten- und Volksversteher - und trug unter anderem dazu bei, die sozialistische Regierung zu Fall zu bringen. Heute beschert das Thema Bildung ihm und seiner konservativen Fidesz-Partei vor allem Ärger. Denn Orbán führt Gebühren nun doch ein, über Umwege. Und seine Hochschulreform ruft - ebenso wie die Verfassungsreform - die EU auf den Plan.

Erst kürzlich ist in Kraft getreten, was die federführende Staatssekretärin im Ministerium für nationale Ressourcen, Rósza Hoffmann, gern als neues "System für nationales Erziehungswesen" bezeichnet. Doch schon seit Oktober 2011, als die Reform lediglich als Gerüst existierte, stehen die Universitäten des Landes kopf. Studenten demonstrieren, Occupy-Bewegung und Studentenwerke verbünden sich und organisieren Aktionen, Universitätsgebäude wurden kurzzeitig besetzt, Professoren gründen Protest-Netzwerke; die Opposition rät derweil den Studenten, beim Verfassungsgericht zu klagen, und die EU-Kommission schaut sich an, ob das neue Gesetz die europäische Freizügigkeit und den Bologna-Prozess untergräbt. Was also ist es, das so viel Aufruhr auslöst?

Dass das Hochschulwesen reformiert werden musste, stand auch für Regierungsgegner außer Frage. Daniel Horn, der an der renommierten ELTE-Universität in Budapest Bildungsökonomie lehrt, sagt, jedermann wisse, dass etwas habe passieren müssen - schließlich sei das Land fast pleite und müsse drastisch sparen. Allerdings: Die Reform der Konservativen sei zu schnell dahergekommen, zu unausgewogen; der Protest richte sich dagegen, dass sich letztlich alle beteiligten Gremien überfahren fühlten.

Kernpunkt der Reform ist eine Verringerung der Autonomie der Hochschulen (in anderen Ländern gibt es einen Trend zu mehr Eigenverantwortung für die Unis). Der ungarische Staat möchte zum Beispiel in Zukunft bei der Auswahl der Hochschuldirektoren mitreden. Nach den Erfahrungen mit der Verfassungsreform geht nun unter Regierungskritikern die Befürchtung um, dass die Chefsessel an den Hochschulen künftig mit linientreuen Personen besetzt werden.

Anstatt wie bisher den Universitäten pro Student Geld zuzuweisen, will die Regierung in Zukunft ein fixes Budget bereitstellen, das laut Budapester Zeitung etwa 70 Prozent des Gesamtbudgets pro Hochschule ausmachen soll. Mehr noch: Studiengänge, die in nationalem Interesse sind oder ökonomisch wichtig, sollen gefördert, andere dagegen abgebaut werden; die Online-Zeitung Pester Lloyd zählt zu den Gewinner-Disziplinen die Ingenieurs- sowie Verwaltungswissenschaften. Juristische und ökonomische Fakultäten sollen im Gegenzug weniger Geld bekommen, zudem Geisteswissenschaften, Kunst, Medien zurückgefahren werden.

Der Kürzung staatlicher Gelder für die Bildungslandschaft steht indes offenbar nicht entgegen, dass eine neue Hochschule gegründet werden soll: eine "Universität des öffentlichen Dienstes", in der alles zusammengefasst wird, was des Staates ist und dem Staat zuarbeitet, also Polizei, Militär, Verwaltung. Staatssekretärin Hoffmann hatte ihr Streichkonzept damit begründet, dass mittlerweile 300 verschiedene Studiengänge an 210 Hochschulen angeboten würden; hier müsse "geglättet" werden. Wertvolle Institutionen, die wichtig für die Gesellschaft seien, müssten aber fortbestehen.

Wegen der massiven Eingriffe in die Hochschullandschaft hat sich mittlerweile ein Professoren-Netzwerk gegründet, das Widerstand leisten will gegen den massiven Zentralisierungsschub und auch gegen politische Übergriffe. "Der Staat will die Universitäten kontrollieren - und das tut er, indem er die Finanzen umverteilt", sagt Antal Örkény, Soziologie-Professor an der ELTE-Universität. Es gebe nun, so beklagt er, keine standardisierten Verteilungsmechanismen mehr, sondern die Budgets für die jeweiligen Unis entschieden sich je nach Stärke der politischen Lobby oder guter Beziehungen.

Örkénys Beispiel: Der Staat entscheide neuerdings darüber, welche Fakultät an welcher Hochschule für welchen Studiengang Geld bekomme - so werde etwa die Juristen-Ausbildung an der Budapester Corvinius-Universität, die für etliche kritische Köpfe bekannt ist, nicht mehr unterstützt; Provinz-Universitäten wie Pécs oder Debrecen müssten einzelne Fakultäten nun ganz ohne Staatsbudget finanzieren. Das aber sei eine klare Wettbewerbsverzerrung; und "ein Mittel, um politischen Druck auszuüben."

Die Autonomie der Bildungseinrichtungen ist der eine Streitpunkt, diese bringt vor allem die Lehrenden auf. Die Studenten aber ärgert etwas ganz anderes: Geplant ist eine Verringerung der Zahl der staatlich geförderten und oft mit Stipendien verknüpften Erstsemesterplätze von 53.000 auf etwa 30.000 bis zum Jahr 2014 - das kommt, so hat Pester Lloyd ausgerechnet, einer Streichung von 40 Prozent der subventionierten Studien-Angebote gleich. Wer keinen Studienplatz aus diesen Kapazitäten bekommt, muss ihn aus eigener Tasche finanzieren. Zwischen 500 und 900 Euro pro Semester kostet das Rechnungen von Studentenverbänden zufolge. Dieser Aspekt ist zudem, wie Bildungsökonom Horn sagt, eine "indirekte Einführung von Studiengebühren, gegen die Fidesz doch vor vier Jahren noch ein Referendum initiiert hatte".

Die Regierung will offenbar die Spreu vom Weizen trennen, nicht mehr jedermann studieren lassen - während in den meisten EU-Ländern die Zugangshürden stetig sinken und etwa in Deutschland das Studium ohne Abitur forciert wird. Der Streit über Gebühren, der fast überall in Europa geführt wird, bekommt einen seltsamen Drall durch die Reaktion des Ministeriums: Staatssekretärin Hoffmann verbittet sich die Kritik, diese sei von der "Opposition gesteuert", sie werde aber mit "legitimen" Studierendenvertretern wie der Nationalen Studentenvereinigung im Gespräch bleiben.

Studentenvertretungen werden übrigens laut Reform auch entmachtet: Anstatt wie bisher mit einem Drittel sollen sie künftig in den universitären Gremien nur noch mit 15 Prozent Stimm-Anteil vertreten sein. Die Verbände sehen in all dem ein soziales Ungleichgewicht, das jene benachteilige, die sich ein Studium schlicht nicht leisten könnten. Sie rufen zu Protesten auf - "Nehmt uns die Zukunft nicht weg" oder "Wer hat dein Diplom bezahlt, Viktor Orbán?" steht auf den Plakaten, mit denen Studenten in den vergangenen Wochen wütend von einer Budapester Uni zur nächsten zogen.

Was die Studenten auch aufregt, vielleicht sogar am meisten: Hoffmann hat angekündigt, Studenten per "Studienvertrag" an das Heimatland zu binden. Wer Staatsgeld für sein Studium erhält, muss sich demnach verpflichten, einen Zeitraum, der doppelt so lang ist wie die Ausbildung, nach dem Examen in Ungarn zu bleiben und hier zu arbeiten - andernfalls muss er seine Förderung zurückzahlen. Bei Ärzten wären das beispielsweise bis zu zwölf Jahre, in denen Mobilität in Europa untersagt ist.

Damit will Hoffmann dem "Braindrain" entgegenwirken, also der Abwanderung von Fachkräften. Sie sagt: "Die Studenten sind schließlich nicht gezwungen, das zu unterschreiben." Studentenvertreter argumentieren, dass diese "Knebelverträge" kontraproduktiv seien und die Zahl jener Studenten, die gleich im Ausland studierten, nur erhöhen würde. Zudem sei damit die Freizügigkeit innerhalb der Europäischen Union und das Recht auf freie Arbeitsplatzwahl tangiert.

Diesbezüglich sorgt sich auch die EU-Kommission, bei der Rósza Hoffmann vergangene Woche vorsprach. Androulla Vassiliou, die Brüsseler Bildungskommissarin, ist irritiert wegen des Gesetzes, das die Studienförderung an den Verbleib auf der ungarischen Scholle knüpft; und sie bangt um die EU-Strategie 2020, mit der die Zahl von Uni-Absolventen eigentlich allerorten erhöht werden sollte. Ungarn fällt bei den höheren Abschlüssen unter den 30- bis 34-Jährigen ohnehin schon deutlich hinter den EU-Durchschnitt zurück: Dieser liegt bei 32,3 Prozent, während es in Ungarn gerade einmal 23,9 Prozent sind.

Der Sprecher der Kommissarin sagt, man befürchte, dass solche Gesetze "die Leute davon abschrecken, sich den Mühen der höheren Bildung zu unterziehen". Man wolle den Ungarn nicht in die Parade fahren, so der Sprecher vorsichtig, aber die Reform sei äußerst hinderlich, wenn es um die Förderung höherer Bildung gehe. Überdies: Wo gebe es das bitte sonst, dass Stipendien in Geld oder Zeit zurückgezahlt werden müssten, falls der Student nach dem Studium das Land verlassen wolle?

Wie schon häufiger in den vergangenen Monaten wünscht man sich in Brüssel, dass die Ungarn nicht nur Teile ihrer neuen Verfassung, sondern auch ihr Hochschulgesetz noch einmal überarbeiten. Daher bat die Bildungskommissarin den Besuch aus Ungarn, dem Gesetz doch bitte eine Erklärung beizugeben, wie man trotzdem die gemeinsamen 2020-Ziele der EU zu erreichen gedenke.

Gestützt wird ihr Begehr von einem Brief aus Ungarn, den besorgte Studenten und Professoren gemeinsam nach Brüssel geschickt haben. Darin verweisen sie darauf, dass die Bindung nach der staatlich finanzierten Ausbildung das Recht auf Freizügigkeit bei der Arbeitsplatzwahl unterlaufe. Das indes fällt nicht ins Ressort von Vassilliou, sondern in das des Arbeitskommissars. Der heißt László Andor - und ist Ungar.

© SZ vom 05.03.2012 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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