Zugunglück:So fühlen sich die Pendler auf der Unglücksstrecke von Bad Aibling

Zugunglück: Bernhard Lechner-Raith wurde bei dem Unglück leicht verletzt. Angst im Zug hat er trotzdem nicht, sagt er.

Bernhard Lechner-Raith wurde bei dem Unglück leicht verletzt. Angst im Zug hat er trotzdem nicht, sagt er.

(Foto: sjan)

6000 Menschen sind täglich mit der Bahn zwischen Rosenheim und Holzkirchen unterwegs. Manche haben ihre ganz eigenen Strategien entwickelt, mit dem Schrecken umzugehen.

Von Sebastian Jannasch, Bad Aibling

Bernhard Lechner-Raith steht am Bahnsteig in Rosenheim, sein Zug wartet schon. Bevor die Bahn in Richtung Holzkirchen losfährt, hat er noch ein paar Minuten, um Ausschau nach einem freien Platz zu halten, idealerweise einer Zweier-Sitzbank. Denn dort sitzt der 20-Jährige am liebsten - und am sichersten, glaubt er.

Die Position bewahrte ihn wohl vor Schlimmerem, als vor einem Jahr zwei Züge zwischen Kolbermoor und Bad Aibling ineinanderasten. Lechner-Raith war in einer der Bahnen, auf dem Weg zur Arbeit, hörte Musik, als es einen gewaltigen Knall gab.

Ein Jahr später fährt er noch immer täglich auf der Strecke, auch wenn er nicht mehr jeden Tag an der Unfallstelle vorbeikommt, seitdem er vor ein paar Monaten von Hinrichssegen nach Kolbermoor gezogen ist. Doch wenn er wie an diesem Tag Freunde besucht, fährt die Bahn entlang der Unglücksroute. Zwei Wochen war Lechner-Raith nach dem Unfall krankgeschrieben. Dann stand er wieder um sieben Uhr morgens am Bahnsteig. "Natürlich denkt man mal an den Unfall, aber ich hatte keine Angst, wieder Zug zu fahren", sagt er.

Nur selten steigen sie noch auf, die Bilder von den Scherben im Zugabteil, von der Person, die wie eine Puppe neben dem Gleisbett lag mit dem Gesicht nach unten, im Hintergrund schmerzerfülltes Wimmern und Stöhnen, wie er es noch nie gehört hatte. "Oft bin ich am Handy und merke gar nicht, wenn ich an der Stelle vorbeifahre", sagt er und deutet aus dem Fenster, während der Zug in einer sanften Kurve am Unglücksort vorbeisaust, der am Mangfallkanal liegt.

Nur bei der Sitzplatzwahl macht sich der Vorfall bemerkbar. Denn der junge Mann sah, wie Leute, die im Gang standen durch die Wucht des Aufpralls durchs Abteil geschleudert wurden. Auch an einem Vierer-Platz will Lechner-Raith lieber nicht sitzen, weil man sich bei einem Aufprall Rippen und Oberschenkel am Tisch brechen könne. Er kam damals mit einer aufgeplatzten Lippe und einer leichten Prellung am Knie davon. "Ich hatte Glück."

So wie dem 20-Jährigen geht es vielen der 6000 Passagiere, die von Montag bis Freitag täglich auf der Mangfallstrecke unterwegs sind. Die Ereignisse vom vergangenen Februar haben sie im Hinterkopf, doch beim alltäglichen Pendeln steht anderes im Vordergrund: einen Platz ergattern, schlafen, den Arbeitstag durchdenken, dem Atem des Nachbarn ausweichen.

Ständiges Gesprächsthema ist das Unglück nicht mehr. Nachdem die Strecke wieder eröffnet war, habe jeder im Zug über den Unfall gesprochen, sagt ein Rentner, der auf dem Weg zum Arzt ist. "Das hört man jetzt nicht mehr." Für viele gebe es für den Weg zu Arbeit, Schule oder Freizeitaktivitäten schlicht keine Alternative zur Bahn. So sieht es auch ein 26-Jähriger aus Bad Aibling, der wie an fast jedem Nachmittag im Zug nach Rosenheim sitzt, um einzukaufen oder Freunde zu treffen. "Direkt nach dem Unfall hatte ich schon ein mulmiges Gefühl, aber mit dem Zug ist es am schnellsten und bequemsten."

"Komische Gedanken, wenn der Gegen-Zug mal nicht dasteht und wir losfahren"

Ganz ohne Spuren ist der Unfall allerdings nicht an dem Pendler vorbeigegangen. Immer wieder ertappt er sich dabei, wie er in Kolbermoor schaut, ob die Bahn aus der Gegenrichtung am Bahnsteig steht. Denn hier warten die Züge, bis die eingleisige Strecke freigegeben ist. "Man kommt schon auf komische Gedanken, wenn der Gegen-Zug mal nicht dasteht und wir losfahren", sagt er. Verrückt machen will er sich aber nicht. "Ich weiß, dass es total unwahrscheinlich ist, dass so etwas hier noch mal passiert." Und doch steigt er möglichst weit hinten in den Zug ein, wenn er rechtzeitig am Gleis ist. So bleibe vorn eine größere Knautschzone. Man weiß ja nie.

Andere sind hingegen völlig unbesorgt. "Ich denke da gar nicht drüber nach", sagt eine 17-Jährige, die täglich zu dem Kindergarten fährt, in dem sie arbeitet.

Spätfolgen des Unfalls meint dagegen die Betreiberin des Kiosks am Bad Aiblinger Bahnhof zu spüren: "Meine Umsätze sind nach dem Unfall gesunken", sagt sie. Zwar gehen die Passagierzahlen auf der Strecke laut Bayerischer Oberlandbahn nicht zurück, doch die Kioskbetreiberin wisse von einigen Leuten, die auf Fahrgemeinschaften umgestiegen sind und nun nicht mehr Cola, Kaugummis oder Zeitungen bei ihr kaufen. Oder mal in ihrem Gaststüberl hängen bleiben und ein Helles trinken.

So wie der junge Mann, der jeden Morgen nach der Nachtschicht bei ihr ein Radler bestellt und an den Automaten gedaddelt habe. Bis zu jenem 9. Februar. Der Stammgast sei einer der zwölf Menschen, die bei dem Unglück ums Leben kamen. Sie selbst nehme den Zug nur noch, wenn es sich absolut nicht vermeiden lasse.

Nach dem Unfall wurde auch Bernhard Lechner-Raith gefragt, ob er künftig lieber Auto fahren wolle. Doch der Berufseinsteiger, der sich bei einem Rosenheimer Antennenhersteller um den Zoll kümmert, kennt sich mit Zahlen aus. "Das wäre völlig verkehrt. Jede Statistik zeigt, dass Autofahren viel gefährlicher ist." Mit der Bahn fährt er also weiterhin, idealerweise auf einem Zweier-Sitz.

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