Zugunglück in Aichach:"Wie so oft, mit ein bissle Geld hätte man es verhindern können"

  • Bei einem Zugunglück im Bahnhof von Aichach sind am Montagabend zwei Menschen gestorben, 14 weitere wurden teils schwer verletzt.
  • Grund für den Vorfall soll menschliches Versagen sein, die Staatsanwaltschaft hat einen Haftbefehl für den Fahrdienstleiter beantragt.
  • Die Technik im Bahnhof gilt als veraltet.
  • Seit Mittwochmorgen ist die Strecke zwischen Ingolstadt und Augsburg wieder freigegeben.

Von Anna Günther und Christian Rost, Aichach

Sie habe das lange Hupen des Zuges gehört und dann "einen riesengroßen Knall". Sabine Tyroller saß am Montagabend um 21.15 Uhr mit ihrem Mann vor dem Fernseher, als direkt neben ihrem Haus im Aichacher Bahnhof ein Regionalzug gegen einen stehenden Güterzug prallte. Zwei Menschen wurden bei dem Aufprall getötet, 14 teils schwer verletzt, weshalb der Fahrdienstleiter des Bahnhofs festgenommen wurde. Es besteht der dringende Verdacht der fahrlässigen Tötung gegen den 24-Jährigen.

Das Ehepaar Tyroller und sämtliche Nachbarn entlang des Bahndammes eilten nach dem Knall zu dem mit rund 30 Passagieren besetzten Zug. Junge Leute zogen die Türen auf. "Allen, die noch laufen konnten, haben wir über den Bach neben den Gleisen geholfen und sie mit Getränken und Decken versorgt", berichtet Tyroller. "Es war ja kalt." Die Anwohner öffneten auch ihre Garagen für die Erstversorgung der Verletzten. Außerdem stellten sie den Einsatzkräften Strom und Licht zur Verfügung, insgesamt waren 240 Helfer an Ort und Stelle. Sie sei noch "total schockiert" von dem Ereignis, sagt die Frau und denkt dabei sorgenvoll an ihren Mann, der täglich mit der zwischen Ingolstadt und Augsburg verkehrenden Bayerischen Regionalbahn (BRB) zur Arbeit fährt.

Am Tag nach dem Unglück herrscht am beschaulichen Bahnhof der schwäbischen 20 000-Einwohner-Stadt gespenstische Ruhe. Der Unfallort ist weiträumig abgesperrt, Gutachter der Bahn in gelben Warnwesten sind an den havarierten Loks zu sehen, der Zugverkehr ist eingestellt, Ersatzbusse fahren. Die Experten müssen klären, warum der 37 Jahre alte Lokführer der Regionalbahn und eine 73-jährige Passagierin sterben mussten und weitere Menschen verletzt wurden.

Nach ersten Erkenntnissen der Staatsanwaltschaft und der Kripo des Polizeipräsidiums Schwaben Nord liegt ein Fehler des Fahrdienstleiters vor, ein technischer Defekt wird ausgeschlossen. "Die Ermittlungen deuten darauf hin, dass es möglicherweise menschliches Versagen in Zusammenhang mit der Abwicklung des Fahrverkehrs im Bahnhofsbereich war", so Michael Jakob, Sprecher des Polizeipräsidiums. Die Verdachtsmomente waren so gravierend, dass die Staatsanwaltschaft einen Haftbefehl für den Fahrdienstleiter beantragte. Das Augsburger Amtsgericht kam dem nach, setzte den Haftbefehl aber wegen fehlender Fluchtgefahr außer Vollzug.

Die Strecke von Ingolstadt nach Augsburg ist eingleisig. Ein Ausweichgleis im Aichacher Bahnhof ermöglicht es Zügen zu passieren. Die Regionalbahn hätte über eine Weiche auf das Ausweichgleis geleitet werden müssen. Sie fuhr aber geradeaus weiter und prallte direkt gegen den mehrere Hundert Meter langen Güterzug, der von einem Palettenhersteller zum Holztransport eingesetzt wird und zum Unfallzeitpunkt nicht beladen war. Der Führer des Güterzuges hatte mit seinem schweren Gespann im Bahnhof gewartet, als der deutlich kürzere Personenzug aus Augsburg kommend aus einer Kurve heraus einfuhr und bei geschätzten 80 Kilometern pro Stunde nicht mehr rechtzeitig zum Stehen gebracht werden konnte. Der Lokführer des Güterzugs überstand die Kollision äußerlich unverletzt.

Walter Greiß steht am Dienstagvormittag an den Gleisen und ist fassungslos. Der inzwischen pensionierte Bahnmitarbeiter war bis in die Neunzigerjahre selbst am Bahnhof Aichach als Fahrdienstleiter eingesetzt. 16 Jahre lang, er kennt die Technik aus dem Effeff. Es ist eine veraltete Technik. Schon vor 30 Jahren habe man bahnintern darüber diskutiert, den Bahnhof mit einem sogenannten Drucktastenstellwerk auszustatten, berichtet Greiß. Damit können Weichen und Signale per Tastendruck gesteuert werden, elektronische Sicherungen verhindern, dass Züge aufeinanderprallen. Die Pläne für die Nachrüstung blieben aber in den Schubladen.

Ein Blick auf den Arbeitsplatz des Fahrdienstleiters zeigt, dass er nach wie vor mit den mechanischen Hebeln hantieren musste, um den Schienenverkehr zu regeln. "Da ist es ruckzuck passiert, dass man etwas übersieht", weiß der 67-jährige ehemalige Fahrdienstleiter. Seinen jungen Kollegen, der wohl für den Unfall verantwortlich gemacht wird, bedauert Greiß: "Mir tut der leid, der da Dienst gehabt hat." Und dann sagt der Mann noch etwas Bemerkenswertes, weil es auf den Punkt bringt, dass die für die Strecke verantwortliche DB Netz AG, ein Tochterunternehmen der Deutschen Bahn, möglicherweise an der falschen Stelle spart. "Wie so oft, mit ein bissle Geld hätte man es verhindern können."

Immer wieder tauchen am Dienstag am Bahnhof in Aichach Menschen auf, die gar nicht glauben können, was da in der Nacht zuvor geschehen ist. Sie kommen mit dem Fahrrad, zu Fuß, mit dem Hund und blicken auf die beschädigten Züge mit Unglauben. Sie können es nicht fassen, dass so ein Unfall ausgerechnet in diesem überschaubaren Regionalbahnhof passieren konnte. Franz Schilberth zum Beispiel, der am Vorabend im Biergarten am Sportplatz saß, als ein Inferno an Blaulicht und Sirenen über Aichach hereinbrach. "Da war plötzlich die Hölle los", erzählt der 77-jährige Senior.

Er selbst nimmt für Fahrten nach Augsburg stets den Regionalzug, wegen der schwierigen Parkplatzsituation in der Stadt. Jetzt wirkt er nachdenklich und erinnert sich an Zeiten, als über die Stilllegung der Zugstrecke diskutiert wurde. Seit einigen Jahren aber herrsche wieder "flotter Verkehr" auf der Strecke, die Züge, mit denen man auch bequem Ingolstadt erreichen kann, werden gut angenommen. Seit Mittwochmorgen ist die Strecke wieder freigegeben.

Bittere Ironie ist, dass kaum noch Güterverkehr hier unterwegs ist. Lediglich die Holzzüge, die ein Salzburger Unternehmen betreibt, sind noch als Schwerlast auf den Schienen unterwegs.

Der Unfall erinnert an das Zugunglück im oberbayerischen Bad Aibling 2016. Damals waren zwei Züge der Bayerischen Oberlandbahn (BOB) frontal zusammengestoßen. Zwölf Menschen starben, 89 wurden verletzt. Der Fahrdienstleiter hatte auf seinem Handy gespielt und die Warnung des Sicherungssystems ignoriert. Wegen fahrlässiger Tötung wurde er zu dreieinhalb Jahren Haft verurteilt. Matthias Nickolai, Oberstaatsanwalt in Augsburg, warnt aber, Parallelen zu ziehen. "Der eine Fall ist mit dem anderen nicht vergleichbar."

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