Aufnahmelager in Zirndorf:Ein krankes Kind und keine Hilfe

  • In Nürnberg wird ein Fall aus dem Zirndorfer Aufnahmelager für Flüchtlinge wiederaufgerollt: Zwei Mitarbeiter der Einrichtung sollen einem kranken Flüchtlingskind rasche Hilfe verweigert haben.
  • In erster Instanz wurden sie zu Geldstrafen verurteilt. Ein Arzt wurde freigesprochen.
  • Vor Gericht weisen die Wachmänner und der Arzt die Vorwürfe zurück. Der Vater des kranken Jungen erzählt dagegen von seiner Verzweiflung.

Von Katja Auer, Nürnberg

Leonardo hat ein rotes Spielzeugauto mit in den Gerichtssaal gebracht. Er sitzt auf dem Schoß seines Vaters und schneidet den Zuschauern fröhlich Grimassen. Fünf Jahre ist er jetzt beinahe alt und es ist ihm nicht anzumerken, dass er vor dreieinhalb Jahren fast gestorben wäre. Aber im Gesicht und an den Händen sind die Narben zu sehen von den mehr als zwei Dutzend Hauttransplantationen, die er seitdem überstehen muste. An der linken Hand fehlt ihm der halbe Ringfinger, ein Zeh musste ihm amputiert werden und zwei Knochen am rechten Mittelfuß. Er hatte sich mit Meningokokken infiziert, Blutgerinnsel bildete sich unter Haut, überall hatte er deswegen schwarze Flecken. Mit diesem Waterhouse-Friderichsen-Syndrom wurde Leonardo in die Klinik in Fürth eingeliefert und sofort ins künstliche Koma versetzt. Ein paar Stunden später hätte er vermutlich nicht mehr gelebt.

Vielleicht hätte es nicht so weit kommen müssen, wenn ein paar Leute schneller reagiert hätten. Überhaupt reagiert hätten. Das Amtsgericht Zirndorf verurteilte vor einem Jahr eine Verwaltungsangestellte wegen unterlassener Hilfeleistung und zwei Wachmänner des Lagers wegen fahrlässiger Körperverletzung zu Geldstrafen. Sie sollen die Bürokratie des Lagerlebens vorgeschoben und den verzweifelten Eltern und ihrem Sohn weder Krankenwagen noch Taxi gerufen haben, sondern sie mit Krankenschein und Stadtplan allein losgeschickt haben. Dünn bekleidet und bei Minusgraden.

Dabei hätten die Mitarbeiter "auch bei oberflächlicher Betrachtung erkennen müssen, dass es sich um einen Notfall handelte", begründete der Richter vor einem Jahr sein Urteil. Leonardo hatte schwarze Flecken am Körper und soll kaum noch ansprechbar gewesen sein. Ein Autofahrer sammelte die Familie aus Serbien schließlich auf der Straße vor dem Lager auf und brachte sie zur Kinderärztin nach Oberasbach. Der Mann bestätigt am Montag noch einmal, dass das Kind in einem sehr schlechten Zustand gewesen sein. "Es wimmerte und war apathisch", sagt er. Außerdem seien die schwarzen Flecken im Gesicht gut sichtbar gewesen.

Der Arzt erzählt seine Version der Geschichte

"Organisierte Verantwortungslosigkeit" nennt Rechtsanwalt Hubert Heinhold, der die Familie vertritt, das, was in Zirndorf passierte. Die drei Verurteilten legten Berufung gegen das Urteil ein, die Familie daraufhin auch ebenso wie der Staatsanwalt, der den Arzt bestraft sehen will. Der 63-Jährige hatte zwar mit dem Durcheinander an jenem Montagmorgen nichts zu tun, aber er untersuchte den Buben am Vorabend, als dieser Fieber hatte, sich erbrechen musste und apathisch war. Das Amtsgericht Fürth hatte ihn freigesprochen, aber nun sitzt er mit den schon einmal Verurteilten wieder auf der Anklagebank im Landgericht Nürnberg.

Er erzählt seine Version der Geschichte, ungehalten beinahe. Dass er den Jungen nur oberflächlich untersucht haben soll, hält er ganz offensichtlich für einen unerhörten Vorwurf. Seit 25 Jahren fahre er schon in die Erstaufnahmeeinrichtung, wenn Kinder krank seien. Er habe Leonardo gründlich untersucht, abgetastet, in Hals und Ohren geschaut. Einen fieberhaften Infekt habe er vermutet, wie ihn Kinder in dem Alter oft haben. Kein Grund zur Sorge also und schon gar keiner, den Buben ins Krankenhaus zu schicken. Fieber gemessen hat er nicht, nicht notwendig, erklärt er, da reiche die Erfahrung. Was tags darauf mit Leonardo passierte, sei nicht absehbar gewesen. Er habe in jedem Fall nichts versäumt, das macht er deutlich. "Dass das so unglücklich gelaufen ist, gibt's immer wieder mal", sagt der Doktor.

Auch der jüngere Wachmann, 52, lässt seinen Rechtsanwalt die Vorwürfe zurückweisen. Er habe die Familie mit dem in eine Decke gewickelten Kind allenfalls kurz gesehen, aber weder habe man ihn gebeten einen Krankenwagen zu rufen noch habe er jemanden abgewiesen. Mehr sagt er nicht. Der andere Wachmann, 69, will sich gar nicht zur Sache äußern.

Er sei vor einem Wachmann sogar auf die Knie gefallen, sagt der Vater

Leonardos Vater bleibt vor Gericht bei seinen Vorwürfen. Niemand habe ihnen helfen wollen, sagt der 27-Jährige. Niemand habe einen Krankenwagen rufen wollen, nicht einmal ein Taxi, stattdessen wurde auf die Vorschriften verwiesen, wonach Asylbewerber zunächst einen Krankenschein brauchen, wenn sie einen Arzt aufsuchen wollen. Den gibt es in der Lageraußenstelle des Sozialamts, aber die war noch nicht geöffnet. Wenn es schnell gehen muss, ist ein Lager für Asylbewerber ein schlechter Ort. Vor einem Wachmann sei er sogar auf die Knie gefallen, "ich wusste nicht mehr, was ich machen sollte", erzählt der Vater. Verzweifelt sei er gewesen und hilflos. Als er den Krankenschein dann endlich hatte, seien sie einfach losgelaufen. Dabei wusste er nicht einmal den Weg nach Oberasbach.

Seine Frau, Leonardos Mutter, ist nicht mit zum Gericht gekommen. Sie ist schwanger, nicht reisefähig, außerdem belasteten sie die Ereignisse in Zirndorf psychisch immer noch schwer, sagt Rechtsanwalt Heinhold. Immerhin, es ist beinahe zynisch, sei der Asylantrag der Familie inzwischen bewilligt. Vor allem wegen Leonardos Erkrankung. Die Familie lebt jetzt in München. Wenn der Prozess vorbei ist, will Heinhold Schmerzensgeld für den Buben vom Freistaat fordern. Schließlich bleibe Leonardo sein Leben lang behindert. Der Prozess wird am 6. Mai fortgesetzt.

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