Willkommenskultur in Bayern:Als die Ungarn Hilfe suchten

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Nach einem Aufruf wurden in wenigen Tagen bergeweise Kleiderspenden abgegeben. (Foto: AP)
  • 1956 kamen nach dem gescheiterten Aufstand in Ungarn fast 200 000 Menschen nach Westen.
  • Sie wurden in Bayern freundlich empfangen.
  • Während der Zeit des Wirtschaftswunders suchte die junge Bundesrepublik Deutschland dringend Arbeitskräfte.

Von Hans Kratzer, München

Der Vorhang für die Tragödie fiel am 23. Oktober 1956 während einer friedlichen Demonstration in Budapest. Das ungarische Volk protestierte damals für freie Wahlen und Pressefreiheit, außerdem verlangte es den Abzug der sowjetischen Besatzungstruppen. Das war mutig, denn die Sicherheitskräfte eröffneten sofort das Feuer gegen die Teilnehmer. Es kam zu Straßenkämpfen und letztlich zu einem Volksaufstand, der von Sowjettruppen blutig niedergeschlagen wurde. Zehntausende Ungarn flüchteten aus ihrer Heimat. Ihren Höhepunkt erreichte die Massenflucht am 4. November 1956, als sich viele Soldaten den Aufständischen anschlossen und sich Ungarns Grenze öffnete. Gut 200 000 Menschen machten sich auf den Weg in Richtung Westen.

Der Ungarnaufstand von 1956 und seine Folgen weisen verblüffende Parallelen zur heutigen Flüchtlingskrise auf. Auch damals musste der Freistaat Bayern innerhalb von wenigen Tagen Scharen von Flüchtlingen aufnehmen. Die gebürtige Ungarin Rita Kiss, die heute in Schwabhausen bei Dachau lebt, befasst sich seit langem mit den dramatischen Ereignissen jener Tage. Momentan promoviert sie am Institut für Bayerische Geschichte der Münchner Universität über den Zustrom ungarischer Flüchtlinge nach Deutschland und deren Integration. Ähnlich wie heute kamen die Menschen über Österreich nach Bayern, gut 80 000 Menschen mussten auf die Schnelle untergebracht werden.

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Positive Einstellung zu den Flüchtlingen

Im Unterschied zu heute, da sich viele Länder gegen Flüchtlinge abschotten, zeigten die meisten Nationen damals bei der Aufnahme der Flüchtlinge eine große Hilfsbereitschaft, sagt Frau Kiss. Nachdem Österreich die Aufnahme der rasch wachsenden Zahl der Flüchtlinge nicht mehr bewältigen konnte, richtete die Regierung einen Hilfsappell an die Weltöffentlichkeit. Auch die Bundesrepublik Deutschland erklärte sich zur sofortigen Aufnahme von "vorerst 3000" ungarischen Flüchtlingen bereit. Nach erneuten Hilferufen beschloss die Bundesregierung kurz darauf, weitere Flüchtlinge aufzunehmen. "Eine Obergrenze wurde nicht festgelegt", sagt Rita Kiss.

Wie die Historikerin bei ihren Recherchen herausgefunden hat, war die Grundhaltung der Bevölkerung gegenüber den Flüchtlingen überaus positiv. Ein Jahrzehnt vorher, kurz nach dem Kriegsende, waren noch Hunderttausende Heimatvertriebene mit großer Abneigung empfangen worden. Allerdings waren die Rahmenbedingungen für die Aufnahme der Ungarnflüchtlinge 1956 im Vergleich zu den Verhältnissen nach 1945 sehr günstig. "Es begann ja das sogenannte Wirtschaftswunder. Arbeitskräfte waren hochwillkommen. Auch der Antikommunismus sowie der 1955 in den Kinos erfolgreiche Piroschka-Film mit Lilo Pulver ermöglichten eine günstige Grundstimmung für die Ankömmlinge", sagt Frau Kiss.

Die ersten Ungarn kamen am 16. November 1956 im Berchtesgadener Land an. "Als der Sonderzug mit 10 Minuten Verspätung langsam in den Bahnhof einlief, erhoben sich zahllose Hände zu herzlichem Willkommen, Kameras surrten, Fotoverschlüsse klickten. Gesichter erschienen an den Fenstern, die sorgenvollen Mienen der Flüchtlinge aus dem Grauen der letzten Tage erhellten sich . . ." Diese Zeilen aus dem Reichenhaller Tagblatt über die Ankunft der Ungarn-Flüchtlinge erinnern durchaus an die kürzlich erlebte Flüchtlings-Euphorie am Münchner Hauptbahnhof.

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Bayern spielte eine hervorgehobene Rolle

Auch 1956 mussten auf die Schnelle Auffanglager und Unterkünfte bereitgestellt werden. Als Sammelstellen für Ungarn-Hilfen eingerichtet wurden, gingen in kurzer Zeit fünf Millionen Mark ein, in jener Zeit eine gewaltige Summe. Aus heutiger Sicht klingt es auch erstaunlich, dass die Ungarn in Österreich frei wählen durften, in welches Land sie weiterreisen wollten. Sonderzüge der Deutschen Bahn brachten Ungarnflüchtlinge zunächst in die bayerischen Auffanglager Piding und Schalding, wo sie registriert wurden. Von dort aus wurden sie über den Freistaat verteilt. Ähnlich wie heute habe das Land Bayern auch beim Flüchtlingszug von 1956 eine hervorgehobene Rolle gespielt, sowohl als Durchgangsland als auch als Aufnahmeland für die Ungarnflüchtlinge, sagt Frau Kiss. Insgesamt 13 500 Ungarnflüchtlinge nahm die Bundesrepublik schließlich auf. "Das Entgegenkommen der Bayern gegenüber den Ungarn sollte sich als vorteilhaft für beide Seiten erweisen." Zu diesem Schluss kommt die mit einem bayerischen Mann verheiratete Ungarin Rita Kiss in ihrer Doktorarbeit, die sie demnächst abschließen will.

Ungarische Flüchtlinge haben eine Zollschranke in Österreich passiert. (Foto: dpa)

Weitere zehn Jahre danach aber tauchten in den Zeitungsmeldungen neue Flüchtlingsphänomene auf, die bis heute Gültigkeit haben. Nun kamen nicht mehr nur politisch verfolgte Flüchtlinge nach Bayern, sondern Menschen, die auf illegalen Wegen Arbeit und ein besseres Leben suchten. Nun blühte das Schleusertum auf. "Raffinierte Geschäftemacher", klagte das bayerische Innenministerium 1965, "versprechen ihren Kunden goldene Berge, nehmen ihnen die letzten Dinare ab und führen sie mit falschen Papieren direkt zwischen den Schlagbäumen hindurch." Das hat sich nicht mehr geändert.

© SZ vom 16.09.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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