Wiederaufnahme im Fall Peggy:"Man darf und kann ihm nicht glauben"

Als Ulvi K. den Gerichtssaal betritt, applaudieren einige Zuschauer: Vor zehn Jahren wurde der geistig zurückgebliebene Mann als Mörder der kleinen Peggy verurteilt. Nun hat vor dem Landgericht Bayreuth ein Wiederaufnahmeverfahren begonnen. Sein Verteidiger erhebt schwere Vorwürfe gegen die Ermittler.

Von Anna Fischhaber, Bayreuth

Als der Angeklagte Ulvi K. den Gerichtssaal betritt, applaudieren einige Zuschauer. Er setzt sich neben seinen Anwalt, zahlreiche Kameras richten sich auf ihn, der 36-Jährige lächelt. Dann kommt die Mutter von Peggy in den Gerichtssaal. Die schmale dunkelhaarige Frau ist Nebenklägerin in diesem Prozess, doch sie geht zunächst zur Anklagebank. Sie schüttelt den Verteidigern die Hand. Und Ulvi K. Dem Mann also, der vor fast genau zehn Jahren als Mörder ihrer Tochter verurteilt wurde.

Vor der Jugendstrafkammer beginnt an diesem Donnerstagmorgen eine sicherlich nicht alltägliche Verhandlung. Das Wiederaufnahmeverfahren im Fall Peggy. Zahlreiche Zuschauer und Journalisten sind gekommen. Dass ein Fall so viele Menschen so lange bewegt, ist selten. 13 Jahre ist es inzwischen her, dass die neunjährige Peggy aus dem oberfränkischen Lichtenberg verschwand. Bis heute gibt es weder eine Leiche, noch irgendein Lebenszeichen. Dafür viele offene Fragen. Nun bekommt der geistig behinderte Ulvi K. einen neuen Prozess.

Leise beantwortet der untersetzte Mann in beigefarbenem Jackett die Fragen des Gerichts nach seinem Familienstand, seinem Wohnort. Seit 2001 ist er in einer forensischen Psychiatrie untergebracht, die lebenslange Freiheitsstrafe wegen Mordes hat er nie angetreten. Dann verliest der Staatsanwalt den Anklagesatz von 2004. Darin wird geschildert, wie die Tat abgelaufen sein könnte.

Demnach soll Ulvi K. das Mädchen auf dem Heimweg von der Schule angesprochen haben. Sie rannte davon, er folgte ihr. Als Peggy stürzte, holte er sie ein. Das Mädchen schrie ihn an. Ulvi K. soll irgendwann Angst bekommen haben, dass seine Eltern erfahren könnten, dass er sich einige Tage zuvor an Peggy vergangen hatte, dass er Hausarrest bekommt. "Spätestens als das Mädchen jetzt weitere Hilferufe ausstieß, entschloss sich Ulvi, Peggy zu töten", heißt es in der Anklageschrift von damals. Er soll nun seine rechte Hand auf Peggys Nase und Mund gepresst haben. "In dieser Situation verharrte Ulvi K. bis sich sein Opfer nicht mehr rührte."

Zehn Jahre nach der ersten Verhandlung sitzt der Angeklagte im Gericht und hört der Staatsanwaltschaft aufmerksam zu. Dann darf er sich äußern. Doch an seiner Stelle verliest nun sein Verteidiger Michael Euler eine Erklärung. Der Fall sei einfach zu komplex. Und: "Wir verhandeln über einen Angeklagten, der nicht mit normalen Maßstäben zu messen ist", erklärt er.

Zunächst berichtet der Anwalt, wie es seinem Mandanten im Bezirkskrankenhaus Bayreuth geht. "Er hat sich dort gut eingegliedert, es ist für ihn ein Zuhause geworden." Er habe einen geregelten Tagesablauf, was er vorher nicht kannte. Er lerne dort noch immer lesen, schreiben und rechnen. Dennoch wünsche er sich eine baldige Entlassung.

Anwalt erhebt Foltervorwürfe

Verteidiger Euler wirft den Ermittlern gravierende Pannen vor. Das Gericht stützte sich bei seinem Urteil 2004 vor allem auf das Geständnis von Ulvi K. - mehr gab es nicht. "Ein mehr als fragwürdiges Geständnis", wie der Verteidiger nun sagt. Denn es gebe nicht ein, sondern vier widersprüchliche Geständnisse. Erst hatte Ulvi K. ausgesagt, zwei Freunde hätten die Leiche beseitigt. Doch die angeblichen Helfer hatten ein Alibi. Dann behauptete Ulvi. K., sein Vater habe sich allein um die Tote gekümmert. Doch auch jetzt fand die Polizei das Mädchen nicht. In einer dritten Version will er mit seinem Vater gemeinsam die Leiche in einen Container geworfen haben. Schließlich beschuldigte er einen Bekannten, ihn zum Mord angestiftet zu haben. Bei seiner Schwester und auch vor Gericht leugnet Ulvi K. den Mord. "Es hätten Zweifel aufkommen müssen, ob das Geständnis wirklich wahr war", sagt der Verteidiger.

Fix und fertig sei Ulvi K. von den Vernehmungen gewesen, sagt der Verteidiger. Nach eigenen Angaben sei er gefoltert worden. Ein Pfleger will gesehen haben, wie Ulvi K. von den Polizisten so laut angeschrien wurde, dass er die Heimleitung informierte. Doch wie kommt der Mann dazu, einen solchen Mord zu gestehen? Auch dazu hat Euler eine Meinung: "Suggestion", sagt der Verteidiger. Ulvi K. habe Angst vor dem Gefängnis gehabt, die Polizei habe behauptet, er komme nicht in Haft, wenn er den Mord gestehe. "Er muss zu dem Schluss gekommen sein, dass für die Polizei nur die eine Wahrheit zählt." Auch ob Ulvi K. Peggy wirklich missbraucht hat, bezweifelt er. Doch Falschaussagen und fehlerhafte Ermittlungsergebnisse seien damals nicht erkannt worden.

Ein Richter auf der Zeugenbank

Der Gutachter im Prozess hielt das Geständnis 2004 dagegen für glaubwürdig. Unter anderem weil Ulvi K. wegen seiner Minderbemittlung sich einen detailreichen Handlungsablauf nicht so habe ausdenken können. Allerdings wusste er nicht, dass die Polizei dem Angeklagten eine Tatherganghypothese vorgelegt hatte. Ein Grund, wieso das Landgericht Bayreuth nun die Wiederaufnahme angeordnet hat - und den Gutachter erneut hören will. Andere Gutachter kamen laut Verteidigung zu dem Ergebnis, dass Ulvi K. trotz seiner Minderbemittlung durchaus viel Phantasie habe. "Man darf und kann ihm wegen seiner geistigen Minderbegabung nicht glauben", sagt Euler.

Die Anklage sieht das anders: "Sie schildern nur eine Seite der Medaille", sagt die Staatsanwältin. Am späten Vormittag sagt ein Richter als Zeuge aus. Ein gewisser Peter H. hatte ihm gegenüber 2010 seine Aussage widerrufen. Der Mann hatte im Prozess 2004 behauptet, sein Mitpatient Ulvi K. habe ihm den Mord gestanden. Später erklärte er, er sei von den Ermittlern zu dieser Aussage gedrängt worden. Peter H. ist inzwischen verstorben.

Der Amtsrichter ist sich sicher, dass Peter H. ihm zumindest in diesem Punkt die Wahrheit gesagt hat: Ulvi K. hat seinem Mitpatienten nie den Mord an Peggy gestanden. "Ob er ein schlechtes Gewissen hatte, weiß ich nicht. Aber da saß ein totkranker Mann vor mir", sagt er. "Er ist nicht in der Absicht zu mir gekommen, mir die Unwahrheit zu erzählen." Nicht sicher ist er sich allerdings, ob die Vorwürfe stimmen, die Peter H. gegen die Polizei erhoben hat. Erst habe der Mann erklärt, die Ermittler hätten sich an ihn gewandt und die Aussage vorformuliert. Später habe Peter H. zugegeben, dass er sich an die Polizei gewandt habe und mehrmals vernommen wurde. Die Polizei habe ihm für das Geständnis die Freilassung versprochen. "Aber das glaube ich nicht", sagt der Amtsrichter. "Vielleicht hat er sich das eingebildet. Und die Polizei hat nicht widersprochen."

Auch Ulvi K. hat der Amtsrichter schon vernommen. Es ging um Ermittlungen gegen zwei Polizeibeamte, die ihn verhört hatten. Ulvi K. sagte damals, ein Beamter habe ihm mit dem Daumen unter die Schulterblätter gedrückt. Das habe wehgetan, aber es sei nur einmal passiert. Wer der Beamte war, daran konnte er sich nicht mehr erinnern. Und auch nicht daran, dass ihm etwas versprochen worden sei. "Die Vernehmung war nicht sehr ergiebig", sagt der Richter. Aber den Daumendruck, den habe er Ulvi K. abgenommen. Die Ermittlungen gegen die zwei Beamten wurden schließlich eingestellt. Am Nachmittag sollen weitere Zeugen gehört werden.

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