Widerstand gegen Leistungsdruck:Immer später in die Schule

Neues Ganztagsschulgesetz

Der erste Schultag beginnt für immer mehr Kinder ein Jahr später.

(Foto: dpa)

Immer mehr Kinder in Bayern bleiben auf Wunsch der Eltern ein Jahr länger im Kindergarten. Auffällig ist auch, dass jedes Jahr fast doppelt so viele Jungen wie Mädchen zurückgestellt werden. Doch ist das wirklich gut?

Von Tina Baier

Immer mehr Eltern in Bayern schicken ihre Kinder ein Jahr später in die Schule, als es eigentlich vorgesehen ist. Aus einer Antwort des Kultusministeriums auf eine Anfrage der Grünen geht hervor, dass die sogenannten Rückstellungen in den vergangenen fünf Jahren stark zugenommen haben. Als zurückgestellt gelten alle Kinder, die nach den Sommerferien nicht in die Schule kommen, obwohl sie bis zum 30. September sechs Jahre alt werden und damit eigentlich schulpflichtig sind.

Nach der Statistik des Kultusministeriums gingen im Schuljahr 2009/2010 in Bayern 9666 Kinder ein Jahr länger in den Kindergarten. 2013/2014 waren es schon 12 427. Und das, obwohl die Anzahl der Schulanfänger im selben Zeitraum kontinuierlich abgenommen hat. Auffällig ist auch, dass jedes Jahr fast doppelt so viele Jungen wie Mädchen zurückgestellt werden.

Nach Ansicht von Simone Strohmayr, Bildungspolitikerin der SPD, reagierten die Eltern mit einer Art Gegenbewegung auf den Geschwindigkeitswahn im bayerischen Bildungssystem, der schon in der Grundschule anfange und sich bis zum "Turbo-Abitur" im achtstufigen Gymnasium durchziehe. "Die Eltern sind verunsichert", sagt sie.

Simone Fleischmann vom Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverband (BLLV), die eine Grundschule in Poing bei München leitet, kann das bestätigen. Immer öfter kämen Eltern zu ihr, die ihr Kind zurückstellen wollten, obwohl es sämtliche Einschulungstests mit Bravour bestanden habe. "Ich kann die Eltern verstehen", sagt sie. Es habe sich eben herumgesprochen, dass die Grundschule in der dritten und vierten Klasse stark leistungsorientiert ist.

"Immer mehr Kinder mit Entwicklungsverzögerungen"

Ein weiterer Grund für die steigende Anzahl von Rückstellungen ist ihrer Ansicht nach aber auch, "dass es immer mehr Kinder mit Entwicklungsverzögerungen gibt". Jungen seien davon häufiger betroffen als Mädchen. Die kognitiven Fähigkeiten sind dabei nur selten ein Problem. Doch die Anzahl der Kinder, die bei der Einschulung auffallen, weil sie sich nicht konzentrieren können, nimmt zu. Viele haben auch Schwächen in Grob- und Feinmotorik, was Schwierigkeiten beim Schreibenlernen machen kann. Paradoxerweise seien es oft gerade die Eltern von Kindern, die ganz offensichtlich noch nicht schulreif sind, die auf der Einschulung bestünden.

Claudia Michael, Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie, berät Mütter und Väter, die unsicher sind, ob sie ihr Kind einschulen lassen sollen oder nicht. "Viele befürchten, dass ihr Kind dem Leistungsdruck in der Schule nicht gewachsen ist", sagt sie. Ihrer Erfahrung nach sind solche Sorgen durchaus berechtigt. Vor allem in der dritten und vierten Klasse bekämen Kinder, die zu früh eingeschult werden, immer wieder Probleme. Nicht weil sie ihren Klassenkameraden intellektuell unterlegen wären, sondern weil sie tempomäßig oder in der Konzentrationsfähigkeit noch nicht mithalten können.

Solche Kinder bekämen manchmal schlechte Noten, weil sie bei Proben nicht rechtzeitig fertig werden - obwohl sie die Aufgaben eigentlich lösen könnten. Claudia Michael kennt Fälle, in denen Kinder den Übertritt aufs Gymnasium oder auf die Realschule nicht schafften, weil sie zu früh eingeschult wurden.

Dazu kommt, dass die Erfahrungen, die Kinder in den ersten beiden Schuljahren machen, die Einstellung zur Schule grundsätzlich prägen. Jungen und Mädchen, die die Schule in dieser Zeit als Ort erleben, an dem sie sich wohlfühlen, haben bessere Chancen auf eine erfolgreiche Schullaufbahn als jene Kinder, die schon in der ersten Klasse das Gefühl bekommen, nicht gut genug zu sein, sagt Michael.

Allerdings kann es auch negative Folgen haben, wenn ein Kind schulreif ist, aufgrund von Bedenken der Eltern aber zu spät eingeschult wird. Kinder, die in der ersten Klasse unterfordert sind, könnten Probleme bekommen, weil sie sich langweilen und deshalb ständig den Unterricht stören.

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