Wehen statt Verdauungsprobleme:Schwanger, ohne es zu wissen

Mit Bauchschmerzen ist die 32-jährige Melanie Gräsner ins Klinikum Coburg eingeliefert worden. Doch in der Notaufnahme stellte sich schnell heraus: Die junge Frau hat keinen Magen-Darm-Infekt, sondern liegt in den Wehen.

Olaf Przybilla

Aus der Sicht von Gerd Gräsner, 56, verlief der Abend folgendermaßen: Kurz nach 23 Uhr kam seine Tochter Melanie nach Hause. Gräsner wunderte sich noch, weil die 32 Jahre alte Schichtarbeiterin nun wirklich nicht der Typ ist, ihre Kollegen ausgerechnet im Nachtdienst alleine zu lassen - nur wegen Bauchschmerzen.

Sie kamen dann gemeinsam ins Grübeln im Hause Gräsner. Blinddarmdurchbruch, sagte einer. Ein anderer hatte vom Norovirus gelesen, so einem ganz üblen Magen-Darm-Infekt, der in diesen Tagen umgehen soll. Mutter Gudrun fuhr Melanie schließlich ins Klinikum, während Gräsner noch versuchte, wenigstens ein wenig zu schlafen - Frühschicht, sagt er zur Erklärung. Um 3.45 Uhr kam seine Frau zurück, alleine. Gräsner erinnert sich an folgenden Dialog: "Und?" - "Die Melanie hat fei a' Mädla." - "Na, is' doch prima."

Frau war bereits im 8. Monat

Melanie Gräsner war achteinhalb Monate lang schwanger, ohne es zu merken. Nun muss sie sich viele Fragen anhören. Ob sie vielleicht gar nicht Mutter werden wollte, wollen die einen wissen. Ob sie denn nichts gemerkt habe, fragen die anderen.

Der gelernten Bürokauffrau, die bei einem Elektronikhersteller Schicht arbeitet, fällt es nicht schwer, dergleichen Fragen zu parieren. "Ich wollte immer schon Mutter werden", sagt sie und herzt ihre Tochter, die inzwischen drei Wochen alt ist, schöne volle Haare hat und nur dann kräftig schreit, wenn es unbedingt notwendig ist.

Opa Gerd sitzt währenddessen selig lächelnd auf dem Sofa des Unterwöhlsbacher Einfamilienhauses. Davor leuchtet ein Christbaum festlich geschmückt, und Gräsner sagt: "Des is' ein ganz großes Glück mit unserer Melanie."

Wenn der Kindsvater, ebenfalls Schichtarbeiter, nach Hause kommt, dann wollen sie gemeinsam die Schwiegereltern besuchen gehen. Die sind auch ganz beseelt. Die Nachbarn haben eine alte Waage vorbeigebracht, eine benutzte Wippe haben die Gräsners nun auch. "Wir hatten hier auf die Schnelle nichts im Haus", sagt der Großvater.

Zwei Tage Zeit, um sich einen Namen zu überlegen

Und die zweite Frage? Kann eine Frau wirklich eine Kind zur Welt bringen und zuvor nichts von ihrer Schwangerschaft bemerkt haben? Glaubt man Melanie Gräsner, so ist sie innerhalb von 31 Minuten von einer Frau mit vermeintlichen Verdauungsproblemen zur Mutter geworden.

Um 1.15Uhr am 15. November wurde sie ins Klinikum als Notfallpatientin eingeliefert. Um 1.46 Uhr kam ihre Tochter auf die Welt. Zwei Tage brauchten Gräsners, um sich zu überlegen, wie das Kind nun heißen soll.

Dann entschieden sie sich für Mia-Sophie. Sie habe sich in den vergangenen Monaten nicht einmal übergeben müssen, sagt die junge Mutter. Die Regelblutung habe nicht ausgesetzt, die Pille habe sie auch nicht abgesetzt. Gelegentliches Bauchweh hielt sie für normal, und "meine Brust war schon immer gut geformt".

Klingt unglaublich, räumt Gräsner ein, sei aber schlicht so. "Denken Sie im Ernst, ich hätte noch am Tag zuvor in der Firma schwere Kästen geschleppt, wenn ich einen Verdacht gehabt hätte, dass ich schwanger bin?" Angesprochen auf eine mögliche Schwangerschaft habe die gut genährte Frau auch niemand, nicht einmal im Freibad vor vier Monaten.

Deshalb hat sie auf der Bamberger Sandkärwa, einem Fest in Franken, nicht darauf verzichten wollen, nach ein paar Gläschen zu viel in einem Parkhaus zu nächtigen. Im September tanzte sie noch im "Caroll's", in Frohnlach, auf einer Ü-30-Party. Nur das Rauchen stellte sie vor drei Monaten ein. "Ich hab' mich noch gewundert, aber das hat plötzlich nicht mehr geschmeckt."

Lesen Sie auf der nächsten Seite, warum der Fall von Melanie Gräsner kein Einzelfall ist.

Im Klinikum Coburg lehnen sie jede Stellungnahme ab. Verschwiegenheitspflicht, erklärt der Chefarzt. Der Direktor der Erlanger Frauenklinik, Matthias Beckmann, kennt den Coburger Fall zwar nicht. Aber er weiß, dass es am größten Universitätsklinikum Nordbayerns einmal pro Jahr vorkommt, dass eine Frau erst sehr spät von ihrer Schwangerschaft erfährt.

Spätestens in der 32. Woche, wenn erste Vorwehen einsetzen, ist es aber meistens so weit - betroffen sind vor allem sehr junge Erstgebärende und Frauen, die zur Korpulenz neigen. In den meisten Fällen glauben die Ärzte, dass die werdenden Mütter ihre Schwangerschaft verdrängen. Die Regelblutung bleibt in der Schwangerschaft aus. Vereinzelte Miniblutungen, sagt Beckmann, können von den Frauen jedoch als Regel missgedeutet werden.

Mama Gräsner sagt, dass sie bestimmt noch ein zweites Kind möchte. Gut fände sie es jedoch, wenn der Kindsvater davon auf andere Weise erführe. Bernd Bauer, 37, lag noch im Bett, als ihm seine Partnerin frühmorgens am Telefon mitteilte, dass er Papa einer gesunden Tochter geworden ist.

"War'n Witz", sagt Frau Gräsner immer dann, wenn sie einen kleinen Ulk gemacht hat. Diesmal wartete Bauer vergeblich auf den Spruch. Zur Untermauerung sendete ihm die Mutter ein Bild per Fotohandy. Im Betrieb von Bauer sagen sie seither: "Es gibt sieben Weltwunder - und in Unterwohlsbach ein achtes."

Großvater Gräsner sieht das auch so. Im Grunde, sagt der 56-Jährige und strahlt, "müsste uns die Krankenkasse viel Geld zahlen." Vorsorgeuntersuchungen gab es schließlich nicht.

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