Volksentscheid in Bayern:Zettelwirtschaft in der Wahlkabine

Landtagswahl in Bayern

Eine Frau im Dirndl verlässt eine Wahlkabine in Bayern.

(Foto: dpa)

Viele wissen es nicht: Parallel zur Landtagswahl am 15. September läuft auch ein Volksentscheid zur Änderung der Bayerischen Verfassung. Das macht das ohnehin schwierige Wahl-Prozedere mit Erst- und Zweitstimme nicht leichter.

Von Hans Kratzer und Andreas Ross

Erstwählerin Maren Z., 21, sitzt am Küchentisch und sortiert aufmerksam einen Packen Papier. Am Tag vorher hat sie im Rathaus ihre Wahlunterlagen abgeholt. Sie macht Briefwahl, die Politik hat sie bislang am Rande verfolgt, jetzt will sie sich aber Zeit nehmen, um die Wahlzettel zu studieren. Weil sie sich noch nicht festgelegt hat, kostet sie die Wahl viel mehr Zeit, als sie gedacht hat. "Mit so einem Wust an Namen und Informationen hatte ich nicht gerechnet", sagt Maren.

Als Wahlberechtigte im Wahlkreis 202 Dingolfing darf sie bei der Landtags- und Bezirkstagswahl jeweils zwei Kreuzchen in Form einer Erst- und einer Zweitstimme machen. Ihr stehen insgesamt 364 Kandidaten zur Wahl. Allein um deren Namen und Daten auf den beiden 60 mal 43 Zentimeter großen Wahlzetteln für die Zweitstimme zu lesen, braucht Maren fast eine halbe Stunde. Kuriosa, wie sie auf jener Liste aufscheinen, auf der die Kandidaten Winter, Winterer und Sommer direkt hintereinander stehen, verleiten sie zusätzlich zum Innehalten. "In der Wahlkabine würde ich mich zeitlich schwer tun", stellt Maren fest, "da sollte man doch relativ schnell fertig sein."

Gerade Jungwähler haben oft Mühe, sich über die Bedeutung der Erst- und der Zweitstimme klar zu werden. Was sie irgendwann in der Schule im Schnellverfahren gelernt haben, ist längst vergessen. Und die Rolle der Bezirkstagswahl? "Hm, keine Ahnung", sagt die Studentin - wohl stellvertretend für viele Wählerinnen und Wähler ihres Alters, deren Interesse für die bayerischen Bezirke und deren Zuständigkeiten (Gesundheitswesen, Sozialwesen, Kultur- und Heimatpflege) naturgemäß noch nicht sehr ausgeprägt ist.

"Davon wusste ich nichts"

Der Volksentscheid, der parallel zur Bayernwahl erfolgt, trifft die Erstwählerin Maren Z. unvorbereitet. "Davon wusste ich nichts", sagt sie. Wer sich eine Woche vor der Landtagswahl bei Jungwählern umhört, erfährt, dass im Schnitt vier von fünf nicht Bescheid wissen. Der Volksentscheid war im Wahlkampf nur ein Randthema, obwohl er die Bayerische Verfassung betrifft, in der immerhin die Werteordnung des Freistaats Bayern festgelegt ist.

Der Landtag hatte am 20. Juni 2013 die Änderung der 1946 in Kraft getretenen Verfassung mit den Stimmen von CSU, FDP, SPD und Freien Wählern und gegen die Stimmen der Grünen beschlossen. Sie soll an die moderne Lebenswelt angepasst werden. Der Wähler kann in einem siebeneinhalb Seiten langen Begleittext die Verfassungsänderungen und die Erläuterungen, die Begründung des Landtags und die Auffassung der Staatsregierung nachlesen, was aber kein reines Vergnügen ist.

Juristentexte, die keiner versteht

"Es sind Juristentexte, alles hab ich da nicht verstanden", sagt Maren. Gleichwohl wurde die Änderung der Bayerischen Verfassung vom Landtag mit der erforderlichen Zweidrittelmehrheit beschlossen. Die politische Mehrheit allein aber reicht bei einer Verfassungsänderung nicht aus. Nach Artikel 75 der Bayerischen Verfassung muss der Beschluss durch einen Volksentscheid gebilligt werden. Und darum geht es:

Artikel 3 (Förderung gleichwertiger Lebensverhältnisse und Arbeitsbedingungen) Dieser Artikel soll um den Satz ergänzt werden: Er (der Staat) fördert und sichert gleichwertige Lebensverhältnisse in ganz Bayern, in Stadt und Land.

Artikel 121 (Förderung des ehrenamtlichen Einsatzes für das Gemeinwohl) Dieser Artikel soll um den Satz ergänzt werden: Staat und Gemeinden fördern den ehrenamtlichen Einsatz für das Gemeinwohl.

Artikel 70 (Angelegenheiten der Europäischen Union) Dieser Artikel soll um folgende auszugsweise Passage ergänzt werden: Über Angelegenheiten der Europäischen Union hat die Staatsregierung den Landtag zu unterrichten. Ist das Recht der Gesetzgebung durch die Übertragung von Hoheitsrechten auf die Europäische Union betroffen, kann die Staatsregierung in ihren verfassungsmäßigen Aufgaben durch Gesetz gebunden werden.

Artikel 82 (Schuldenbremse) Dieser Artikel wird neu formuliert und sagt im Kern aus: Der Haushalt ist grundsätzlich ohne Nettokreditaufnahme auszugleichen. Bei einer von der Normallage abweichenden konjunkturellen Entwicklung oder bei Naturkatastrophen und außergewöhnlichen Notsituationen kann von dieser Regelung abgewichen werden.

Artikel 83 (Angemessene Finanzausstattung der Gemeinden) Hier heißt es künftig ergänzend: Der Staat gewährleistet den Gemeinden im Rahmen seiner finanziellen Leistungsfähigkeit eine angemessene Finanzausstattung.

Die Förderung gleichwertiger (nicht gleicher) Lebensbedingungen in Stadt und Land sowie die Förderung des Ehrenamts gehören schon jetzt zu den politischen Zielen der Fraktionen im Landtag. Beides soll nun in der Verfassung zum Staatsziel erklärt werden. Komplizierter ist der Artikel 70. Hier wird nicht nur dem Landtag, sondern per Volksentscheid auch den Bürgern die Möglichkeit eingeräumt, bayerische Interessen in der Europapolitik zu wahren. Sollte die Staatsregierung Zuständigkeiten an die Europäische Union abtreten wollen, kann sie dies künftig nicht ohne Zustimmung des Landtags tun.

Neu ist im Artikel 82 die Schuldenbremse, die dem Freistaat von 2020 an verbieten soll, seinen Haushalt durch neue Kredite auszugleichen. Damit soll eine weitere Verschuldung gestoppt werden. Ein hehres Ziel ist auch im Artikel 83 beschrieben. Die Gemeinden sollen vom Staat die für ihren Bedarf angemessene Finanzausstattung erhalten. Die Verfassungsnorm wird aber nicht automatisch für mehr Geld in den kommunalen Kassen sorgen.

Erstwählerin Maren Z. ist vor allem angesichts der Bayerischen Verfassung hin- und hergerissen. "Da werden staatstragende Ziele formuliert", sagt sie, "aber der Wähler wird kaum darauf vorbereitet. Wie soll er da auf die Schnelle eine Entscheidung treffen - noch dazu unter gefühltem Zeitdruck in der Enge der Wahlkabine?"

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