Unterwegs mit einem Zeugen Jehovas:Der Missionar von Deisenhofen

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Die Bibel und die Zeitschriften "Der Wachturm" und "Erwachet!" hat Christoph Wilker auf seinen Streifzügen immer dabei. (Foto: Stephan Rumpf)

Er möchte sich mit Wildfremden über höhere Wesen unterhalten: Christoph Wilker, Sparkassenbetriebswirt im Vorruhestand, ist Zeuge Jehovas und zieht von Tür zu Tür. Manch einer schlägt ihm die vor der Nase zu, doch er ist auch willkommen - manchmal auch nur, weil ein Einsamer jemanden zum Reden braucht.

Von Tina Baier

Zehn Uhr vormittags, eine gepflegte Siedlung irgendwo in Deisenhofen. Der Tag wird heiß, das ist schon zu spüren, aber noch ist die Temperatur angenehm. Christoph Wilker geht zügig an einer jungen Frau vorbei, die sich mit ihrer Nachbarin unterhält. "Da wollte ich eigentlich hin", sagt er, als er außer Sichtweite ist. "Aber das war jetzt gerade ungünstig."

Wilker ist Zeuge Jehovas, früher war er Sparkassenbetriebswirt, jetzt ist er im Vorruhestand. Mehrmals pro Woche klingelt er mit einer Bibel und den Zeitschriften Der Wachturm und Erwachet! in der Hand an Haustüren oder er spricht Menschen auf der Straße an. "Weil ich ihnen die Chance geben will, die Zeugen Jehovas kennenzulernen und diesen Weg ebenfalls zu gehen", sagt er. Wie alle Mitglieder - in Bayern gibt es etwa 30 000 - glaubt Wilker, dass Menschen, die nicht nach den strengen Regeln der Zeugen leben, in einem Gotteskrieg, Harmagedon, umkommen werden. Weil davon nichts in der Bibel steht, feiern Zeugen Jehovas weder Weihnachten noch Geburtstage und taufen auch keine Babys. Missionieren gehört dagegen zu den Pflichten jedes Mitglieds.

Die Frau, die er eigentlich hatte besuchen wollen, sei sehr aufgeschlossen, sagt Wilker. Trotzdem ist er vorsichtig. Schließlich weiß er nicht, ob sie will, dass die Nachbarn das auch wissen. Er geht einen weiten Bogen, um nicht erneut an dem Haus vorbeilaufen zu müssen. "Das würde komisch aussehen", murmelt er.

Zehn nach zehn. Wilker bleibt bei einem Haus stehen, vor dem mehrere Autos parken. "Hier müsste eigentlich jemand zu Hause sein." Er klingelt und tritt einen Schritt zurück. Stille. Dann rumpelt es über seinem Kopf und eine Frau schaut vom Balkon im ersten Stock herunter. "Alles Gute kommt von oben", ruft Wilker fröhlich hinauf. "Es geht um die Frage, ob man heute noch an ein höheres Wesen glaubt." "Ich arbeite", knurrt die Frau und knallt die Balkontür zu. Danach ist es wieder still. Irgendwo zischt ein Rasensprenger. "Die hat sich jetzt genervt gefühlt", konstatiert Wilker. Diese Reaktion sei aber eher selten. Man müsse die Gesamttätigkeit sehen.

"Zu Frauen gehe ich nur zusammen mit meiner Frau"

Auf seinen Touren merkt sich Wilker, wo Menschen wohnen, die Interesse gezeigt haben. Dann macht er sich eine kurze Notiz in ein kleines Büchlein und wird nach angemessener Zeit wieder klingeln. Menschen, von denen er weiß, dass er willkommen ist, besucht er mehrmals im Monat. "Zu Frauen gehe ich nur zusammen mit meiner Frau", sagt er. "Wie würde das sonst aussehen?" Mit einigen seiner "Kunden" macht er sogar Termine aus.

An der nächsten Tür hängt ein Kranz. Zwei Kästen Mineralwasser stehen im Eingang. Wilker klingelt und tritt zurück. Nichts. Nur ein paar Bienen summen im Vorgarten. Es ist schon 20 nach zehn, und er ist noch mit niemandem ins Gespräch gekommen. Auch an der nächsten Tür klingelt er vergeblich. Im Garten daneben schiebt ein älterer Herr gerade das Tor zur Garagen-Einfahrt zu. "Wir haben eigentlich keinen Gesprächsbedarf", sagt er. Wilker ist unschlüssig, ob er sich zusammen mit dem Tor hinausschieben lassen soll oder ob er schnell durch den Spalt tritt, bevor das Tor ganz zu ist.

Der Mann nimmt ihm die Entscheidung ab: Er kommt selbst heraus, macht aber das Tor zu. "Wir sind auch Christen", sagt er. "Wir sehen das aber nicht fanatisch." "Die Bibel ist immer eine gute Basis", entgegnet Wilker diplomatisch. Dann entdeckt er die Frau, die schon im Auto sitzt und wartet. Sie fährt das Fenster herunter. "Wir haben nichts gegen die Zeugen Jehovas", sagt sie. Wilker zückt eine Ausgabe von Der Wachturm, in der es um das Thema Vorurteile geht. "Darf ich Ihnen das mitgeben?", fragt er höflich. "Nein", sagt der Mann. "Ja", sagt die Frau.

Zehn Uhr und 40 Minuten: Ein kleiner Junge auf einem Roller kommt Wilker auf der Straße entgegen. Ein ältere Frau, wahrscheinlich die Oma, läuft hinterher. "Du hast aber einen tollen Roller", sagt Wilker zu dem Kind. Und zu der Frau: "Da haben Sie aber eine schöne Aufgabe, sich um Ihr Enkelkind zu kümmern." Die Frau schaut leicht verwirrt: "Io sono italiana." "Io Testimoni di Geova", sagt Wilker. "Aaah" macht die Frau. "September Toskana", sagt Wilker. "Aaah, bella Toskana", sagt die Frau. Beide lächeln sich freundlich an. Dann gehen alle weiter. "Ciao", ruft der kleine Junge. "Man müsste Italienisch können", murmelt Wilker. In Italien seien die Zeugen Jehovas die zweitgrößte Religionsgemeinschaft nach den Katholiken. Auch in Spanien sei das so.

Schon viertel vor elf. Wilker entscheidet sich, mit dem Auto in eine andere Siedlung zu einem Stammkunden zu fahren. Er bremst vor einem kleinen Haus mit grünen Fensterläden. Das Tor ist geschlossen, die Fensterläden sind es auch. "Sieht nicht verheißungsvoll aus", sagt Wilker. Doch diesmal hat er Glück. Ein älterer Herr öffnet die Tür und schlurft heraus. "Setzen wir uns doch ein bisschen hin", lädt er Wilker in seinen Garten ein, in dem Kapuzinerkresse und Rosen wachsen. "Ich glaube ja an Jesus, aber ich habe auch so meine Zweifel", sagt der Mann.

Wilker ist gut vorbereitet: Es sei sehr gut belegt, dass Jesus wirklich gelebt hat, endet er nach einem längeren Vortrag. "Jedes normale Gericht würde diese Beweisführung gelten lassen." Kurze Pause. "Ja", sagt der Mann. Er würde Wilker wohl stundenlang zuhören, er wohnt allein, seine Frau ist schon vor einiger Zeit gestorben. Doch Punkt elf steht Wilker auf und verabschiedet sich. "Mich freut's immer, wenn er kommt", sagt der Mann und schlurft in sein vor der Hitze verrammeltes Haus zurück.

© SZ vom 14.08.2013 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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