Nachkriegszeit:Als der Kreis Lindau ein eigener Staat war

Lindau: Tagung der Nobelpreisträger

Lindau gehört erst seit 60 Jahren zu Bayern.

(Foto: Johannes Simon)

Bis 1956 gehörte der Landkreis weder zu Bayern, noch zu Baden-Würrtemberg. Eine Zeit die bis heute nachwirkt - und von einigen sehr vermisst wird.

Von Stefan Mayr

Spitznamen hatte Anton Zwisler mehr als genug. Sie nannten ihn "Landesvater", "Tony der Erste", "König von Lindavien" oder "Anton der Sanftmütige". Nicht schlecht für einen gebürtigen Bregenzer, der als gelernter Ingenieur zunächst nur Landmaschinen herstellte. Doch im Dezember 1946 rutschte er eher zufällig in ein Amt, das es so in Bayern weder zuvor noch danach ein zweites Mal gegeben hat.

Als 58-Jähriger wurde er Herrscher in einem Staatskonstrukt, das am südwestlichen Zipfel Bayerns zehn Jahre lang Bestand hatte - und ebenfalls jede Menge Kosenamen verpasst bekam: "Zweites Fürstentum Liechtenstein", "Paradies" oder "Deutschlands Fettfleck". Letzteres hatte nicht nur mit der üppigen Milch- und Butterproduktion zu tun. Und als das "Land Lindau" anno 1950 das erste Spielcasino weit und breit eröffnete, war gar vom "Monte Carlo am Bodensee" die Rede.

Es waren vogelwilde und privilegierte zehn Jahre. "Die goldene Zeit von Lindau", sagt der Lindauer Landrat Elmar Stegmann, "ältere Generationen blicken immer wieder wehmütig auf diese Jahre der absoluten Autonomie zurück." Was war damals los in und um Lindau zwischen 1946 und 1956?

Warum der Kreis Lindau unabhängig war

Am Ende des Zweiten Weltkriegs hatten französische Streitkräfte Teile des Allgäus besetzt. Wenig später gaben sie die Kreise Sonthofen und Kempten an die Amerikaner ab. Nur den dritten bayerischen Kreis Lindau behielten sie, denn sie benötigten ihn als Landbrücke zwischen ihren Besatzungszonen in Württemberg und Vorarlberg. Die US-Vertreter waren einverstanden, und so entstand der kuriose "Bayerische Kreis Lindau".

Dieser gehörte weder zu Bayern noch zu Württemberg, er war de facto ein eigener Staat. Als Herrscher setzten die Franzosen den Unternehmer Anton Zwisler ein. Der "Kreispräsident" war ein Staatsoberhaupt, das seinesgleichen suchte. Man hätte ihn auch König nennen können. Ihm unterstanden der Landkreis, die Stadt Lindau und auch alle Landes- und (bis 1949) Reichsbehörden.

Er alleine machte die Gesetze und exekutierte sie auch. Seine 55 000 Untertanen waren also fest in seiner Hand. Dabei war er nicht demokratisch legitimiert, in der gesamten Amtszeit fand keine einzige Wahl statt. Erst Ende März 1956, also exakt vor 60 Jahren, kehrte die Sonderzone nach Bayern zurück.

Woran man die Unabhängigkeit noch heute merkt

Das zehnjährige Intermezzo wirkt bis heute nach. So spielen die Fußball- und Tischtennis-Vereine nach wie vor im baden-württembergischen Ligabetrieb. Das prominenteste Überbleibsel ist das Spielcasino: Es wurde bereits anno 1950 eröffnet. König Anton hat es sich quasi selbst genehmigt, während sich in Bayern die CSU noch sträubte, solche Zockerhöllen zu errichten. So hatte Lindau weit und breit keine Konkurrenz. Die Menschen kamen bis aus Österreich und der Schweiz, entsprechend groß waren die Gewinne - und die Steuereinnahmen fürs "Land Lindau".

Überhaupt durfte der Kreis sämtliche Steuern und Zölle für sich behalten. "Und dazu gab es noch eine andere Geldquelle", berichtet Ludwig Flachs, der damals Angestellter im Landratsamt war. "Bei allen erwischten Kaffeeschmugglern wurde Geld abgeschöpft", sagt der heute 84-Jährige. Kurzum: König Anton wusste gar nicht, wohin mit seinem Geld. "Jeder Ort, der was bauen wollte, wurde bezuschusst", sagt Flachs. Straßen wurden gebaut, Schulen hochgezogen. Es entstanden Krankenhäuser, Schwimmbäder und Wohnungen, ein Eisstadion und Deutschlands erster Theaterbau nach dem Krieg. Auch dieser erinnert bis heute an die paradiesische Zeit.

Während die Menschen in vielen Ecken Deutschlands Hunger litten, lebten die Lindauer im Überfluss. Auf den Obstwiesen blühten die Apfel- und Birnbäume, auch Fleisch und Milch wurde in Hülle und Fülle hergestellt. Und nichts von alledem musste nach München oder Stuttgart abgegeben werden. "Wir vespern, wo wir wollen", pflegte Anton Zwisler zu sagen. Mal bediente er sich bei württembergischen Gesetzen, mal bei bayerischen Verordnungen - je nachdem, wo die Brocken größer waren. Die Bürger hatten mit den verfassungsmäßig bedenklichen Zuständen null Problem. Schließlich bemühte sich ihr "Landesvater", den Reichtum gerecht unters Volk zu bringen.

Welche Macht Zwisler hatte

Nachkriegszeit: Kreispräsident Anton Zwisler liebte gute Zigarren.

Kreispräsident Anton Zwisler liebte gute Zigarren.

(Foto: Heimatkundliches Dokumentationszentrum Lindau)

Aber eigentlich war Zwislers Machtfülle beängstigend. Er konnte mehr schalten und walten als jeder andere Ministerpräsident. Er musste sich nicht mit irgendeinem Parlament herumärgern. Ihm wurde lediglich ein sechsköpfiger beratender Ausschuss zur Seite gestellt. Die einzige Kontrollinstanz war die französische Militärregierung. Und die hielt sich meist vornehm zurück. In einer Sache griff sie freilich durch: Die CSU war bis 1953 verboten.

Im November 1950 schrieb die Reporter-Legende Hans Ulrich Kempski in der Süddeutschen Zeitung über den "Staatschef" des "Liliput-Reiches": "Er schaut wie der leibhaftige Weltfrieden aus, raucht ganze Ketten dicker Zigarren und ist Optimist, weil dies seiner Ansicht nach der einzige Mist sei, auf dem heute in der Politik etwas wachse."

Es waren schon kuriose Zeiten und wer in den Zeitungen von damals blättert, muss höllisch aufpassen. Am 1. April 1950 meldete die Konstanzer Tageszeitung, Zwisler habe mit Adenauer über die Gründung des Freistaats Lindau verhandelt. Die Nachricht machte die große Runde, Franzosen und Bayern erschraken sehr, auch überregionale Blätter berichteten über die Unabhängigkeits-Bestrebungen vom Bodensee. Es dauerte einige Tage, bis klar war: Die Konstanzer Redakteure hatten nur einen Aprilscherz gemacht.

Wie der Kreis dem Freistaat einverleibt wurde

Nach zehn Jahren fand das Paradies schließlich ein Ende. Mit einem Festakt am 27. März 1956 im Alten Rathaus wurde der Kreis Lindau dem Freistaat Bayern einverleibt. Bayerns gesamte Staatsregierung war angereist, und Ministerpräsident Wilhelm Hoegner (SPD) sprach: "Ein Juwel des bayerischen Landes ist uns wiedergewonnen." Er sei nicht als Eroberer gekommen, sondern als Bräutigam, der schon lange auf die Braut warte. Lindau sei alles andere als ein verlorener Sohn, sondern habe es zu etwas gebracht.

Das bestätigte Anton Zwisler in seiner Abschiedsrede: "Wir haben zehn Jahre lang gut zusammengehalten, haben uns unserer Selbständigkeit gefreut und sie genützt und sind immer gute Bayern geblieben." Zwisler und seine Bürger hatten stets klar gemacht, dass sie zurück nach Bayern wollten. Mit einigen Ausnahmen: Einige Anwälte klagten gegen die Rückkehr und wollten den Kreis als "selbstständiges Land" erhalten. Der Bayerische Verfassungsgerichtshof wies die Klage ab.

Was aus dem Kreis geworden wäre, wenn er sich für die Selbständigkeit entschieden hätte? CSU-Landrat Stegmann hat eine klare Meinung: "Ein Blick in die nahe Nachbarschaft, ins Fürstentum Liechtenstein, genügt, um auch in dieser Variante eine rosige Zukunft zu sehen." Der Landkreis Lindau sei "sowieso recht weit weg von München" und müsse sich "immer wieder bei der Staatsregierung in Erinnerung rufen". Noch so eine Nachwirkung der zehn Extra-Jahre? Für Stegmann hätte es jedenfalls "schon einen gewissen Reiz", das Erbe des Kreispräsidenten anzutreten.

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