Umwelt:Ein kaltes Monstrum gegen Schneelawinen

Umwelt: Mit bis 25 Metern Höhe und 425 Metern Länge prägt die neue Mauer die Landschaft am Fuße des Karwendelgebirges.

Mit bis 25 Metern Höhe und 425 Metern Länge prägt die neue Mauer die Landschaft am Fuße des Karwendelgebirges.

(Foto: Stephan Rumpf)
  • Seit dem 23. Februar 1999, als eine Lawine Mittenwald traf, wurde dort der Bau einer großen Schutzmauer geplant.
  • In wenigen Wochen wird die umstrittene Mauer nun fertig.
  • Der Bau kostete dreieinhalb Millionen Euro, Kritiker sehen das in Zeiten des Klimawandels als Geldverschwendung.

Von Christian Gschwendtner

Bürgermeister Adolf Hornsteiner kann die Aufregung um seine Mauer nicht verstehen. Er stapft in Haferlschuhen über die Baustelle, gleich neben der Karwendelbahn in Mittenwald. Allein in den vergangenen drei Tagen ist er dreimal dagewesen, hat Interviews gegeben, seine Sicht auf die Mauer erklärt. Jetzt muss es langsam mal gut sein, findet Adolf Hornsteiner. Er sagt: "Eigentlich fehlt hier nur noch die New York Times." Die Arbeiter auf der Baustelle sagen: "Servus, Adi!"

Die neue Lawinenschutzmauer von Mittenwald ist zum Politikum geworden. Sie steht am Fuß des Gerberkreuzes. Westausläufer des Karwendels, sagenhaftes Bergpanorama. Noch ist die Mauer nicht ganz fertig gebaut. Aber das Interesse ist schon jetzt gewaltig. Wohin man schaut: nur Superlative. Die Lokalzeitung fühlt sich an die Chinesische Mauer erinnert, woanders ist von einem Jahrhundertwerk die Rede. In jeden Fall ist die Mittenwalder Mauer Bayerns größtes Lawinenschutzprojekt. Nur Bürgermeister Hornsteiner sieht das alles ein kleinwenig anders. Er fordert, den Ball bitteschön flach zu halten.

Als Hornsteiner sich an diesem Nachmittag auf der Baustelle mit den Arbeitern unterhalten will, rollt der nächste Lastwagen vorbei. Den Kiesweg rauf zur Mauer. Es staubt. Die Männer müssen kurz husten. Einer sagt: "Ja mei, der Staub." Gleich ein gutes Stichwort.

Am 23. Februar 1999 löste sich eine Staublawine von der Gerberplatte. Es gibt Videoaufnahme davon. Sie zeigen, wie eine gigantische Schneesuppe 1000 Meter in die Tiefe schwappt: über die Bundesstraße drüber, hinein ins Wohngebiet. An die 100 Leute mussten damals in Sicherheit gebracht werden, sie übernachteten in der Kaserne. Seitdem ist nichts Vergleichbares passiert. Aber in Mittenwald reicht die böse Erinnerung, dass 17 Jahre später sehr viel Geld zur Lawinenabwehr investiert wird. Genauer: dreieinhalb Millionen Euro. Das muss man wissen, um das Ausmaß der Mauer zu begreifen.

Sie ist mit 25 Metern Höhe und 425 Metern Länge - rechnet man die beiden Abschnitte zusammen - eine wuchtige und enorm einschüchternd wirkende Mauer. Nach vorne ist sie 70 Grad steil. Unten besteht sie aus Steinen. Dann kommt abwechselnd eine Erdschicht und Geogitter, was nach einer Gabionenwand aussieht, wie man sie aus Vorgärten kennt. Nur halt viel massiver. Tatsächlich denkt man eher an ein kaltes Monstrum, wenn man auf der Mauer steht und nach unten schaut. Eine Steinwüste im Bergparadies. Noch ist nichts grün, nichts angepflanzt. Was denkt der Bürgermeister?

Wer Hornsteiner Emotionen über die Mauer entlocken will, der ist definitiv an der falschen Adresse. Hornsteiner steht an der höchsten Stelle der Mauer. Er hat beide Daumen in den Taschen seiner Lederhose versenkt und sagt Wörter wie "Zielvorstellung" und "Gefährdungspotenzial". Und: "Schutz für Leib und Leben." Das Höchste an Gefühlen, was man von Hornsteiner zu hören bekommt, ist die Aussage, er könne jetzt ruhiger schlafen. Wegen der Mauer.

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SZ Karte

Unumstritten war das Lawinenprojekt nicht. Die Mauer liegt am Rande eines Naturschutz- und Vogelschutzgebiets. Doch Hornsteiner hat wie kein anderer auf sie bestanden. Im Mai 2015 wurde sie dann genehmigt, nach jahrelangem Behörden-Ping-Pong. Dann fiel den Planern aber ein, dass es zusätzlich noch drei Sprengmasten oben auf dem Berg braucht. Mit ihnen lässt sich kontrolliert sprengen, damit gar nicht erst so eine Extremlawine entstehen kann (statistisch passiert das alle 150 Jahre).

Jedenfalls: Wenn doch mal 80 000 Kubikmeter Schnee anrauschen, gibt es jetzt die Mauer. Eine Lawine besteht aber auch aus Staub, der wie ein schwerer Sturm über die Mauer drüberfegen kann. Deswegen die kontrollierte Sprengung. Safety first, würde der Amerikaner sagen, Sicherheit zuerst. Die Naturschützer waren skeptisch. Vor allem bei den Sprengmasten. Sie konnten aber nicht beweisen, dass Steinadler, Alpenschneehühner, Wanderfalken und Birkhühner gestört werden. Klarer Sieg für die Mauer. Fühlen sich die Menschen jetzt sicherer?

"Ich habe nie Angst gehabt", sagt Margaret Gaupp, 69. Sie sitzt daheim am Esstisch nur 300 Meter von der Mauer entfernt, in der besonders gefährdeten Wohnsiedlung "Am Waudl". Vor ihr liegen Fotos von der Staublawine. Margret Gaupp sagt, als sie die Bergwacht damals abholen wollte, seien sie und ihr Mann daheim geblieben. Und die neue Mauer? Die hat sie sich noch gar nicht angeschaut. "Man fühlt sich da oben so klein." Aber eine Gegnerin ist Margret Gaupp trotzdem nicht, das betont sie extra. Und es beschreibt das Grundgefühl der Mittenwalder gleich ganz gut.

Die meisten, die man trifft, sagen: Die Gemeinde müsse ja nur einen geringen Teil selber zahlen. Mehr als zwei Drittel der Kosten übernehmen Bund und Freistaat. Da fällt es leichter, sich mit der Mauer anzufreunden. Zumal man sie vom Ort aus gar nicht sieht. Im Münchner Merkur wurde Bürgermeister Hornsteiner gar als geschickter "Taktierer" bejubelt. Weil die Mauer für die Mittenwalder so billig ist.

Offen wird sie nur von einem Mann bekämpft: dem Gemeinderat Rudi Rauch, 76. Er sitzt auf der Holzbank vor seinem Gartenhaus, an den Füßen Turnschuhe, ein rüstiger Rentner. Rauch winkt ab. Nein, er wolle nicht mehr über die Mauer sprechen. Da rege er sich immer so fürchterlich auf. Er tut es dann natürlich trotzdem. "Ein unglaublicher Eingriff in die Natur", sagt er. Vor allem in Zeiten des Klimawandels, wo es sowieso weniger Schnee gebe. Er hat damals als Einziger im Gemeinderat dagegen gestimmt. Zwanzig gegen einen. Rauch war auch der einzige SPDler im Gemeinderat ("Im Isartal ist das eine Mutprobe"). Inzwischen sind sie zu zweit, immerhin - und Rauch hofft weiter. Im Moment auf den Schulz-Zug. Dass der zurückkommt.

Die Mauer wird in ein paar Wochen fertig sein. Ein Jahr früher als geplant. Am Ende sind einige der 28 Umweltauflagen weggefallen, sagen die Bauherren vom Wasserwirtschaftsamt Weilheim. Deswegen ging es schneller. Im Mauerbereich gibt es nämlich keine Zauneidechse, keinen Frauenschuh und Alpensalamander. Zumindest haben die Umweltkontrolleure noch keine gefunden.

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