Tölzer Knabenchor:Eine Reise ins Ungewisse

Gerhard Schmidt-Gaden hat mit seinem Tölzer Knabenchor eine letzte Tournee in die USA absolviert - dieses Jahr hört er auf.

Helmut Mauró

In fünfzig Jahren habe er diese Stelle nicht einmal richtig gehört, nicht ein Mal habe der Schluss der Motette "Fürchte Dich nicht" so geklungen, wie er klingen muss. Das Lamento findet, vergleicht man Aufnahmen anderer Chöre, auf höchstem Niveau statt, aber es hat einen ernsten Hintergrund.

Tölzer Knabenchor: Gerhard Schmidt-Gaden wird den Tölzer Knabenchor verlassen.

Gerhard Schmidt-Gaden wird den Tölzer Knabenchor verlassen.

(Foto: Foto: oh)

Vielleicht sei es das letzte Mal, sagt Gerhard Schmidt-Gaden, dass er die Motetten von Johann Sebastian Bach dirigiere. Er wird im Sommer 72 Jahre alt, und 50 Jahre Tölzer Knabenchor mit wirtschaftlich stets ungewisser Zukunft haben deutliche Spuren hinterlassen. In diesem Jahr will er die Leitung seines Chores abgeben. Die Buben seines Tölzer Knabenchores schauen verdutzt.

Sie stehen an diesem Probenvormittag vor ihm auf den Altarstufen der St. Mary Chapel, einer kleinen Kirche im kalifornischen Santa Monica. Der berühmte Strand "Venice Beach" ist nicht weit, das Wetter ist frühlingshaft warm und sonnig, und in den Räumen hinter der Sakristei haben sich einige Hilfsbedürftige aus der Gemeinde eingefunden.

Sie tragen alte Gummisandalen und hautenge Jogginghosen. Weihnachten steht vor der Tür, und viele der Gesichter, die von Jahrzehnte langem Drogenmissbrauch zerfurcht und verdunkelt sind, hellen sich auf, soweit das möglich ist, als sie erfahren, dass am Abend ein Konzert stattfindet, zu dem auch sie eingeladen sind.

Österreich hilft

Vor allem sie, musste man dann feststellen, denn mit der Werbung für den weltberühmten und - seit dem qualitativen Niedergang der Wiener, der Kruzianer und der Regensburger - auch weltbesten Knabenchor hat es wieder einmal nicht so richtig geklappt.

Von der deutschen Botschaft ist niemand gekommen, deren Vorabmeldung über die Konzertreise der Tölzer strotzt vor Inkompetenz, es würden Oratorien von Bach gesungen, steht da zu lesen neben anderem Unsinn, aber es gab ja dann zwei grandiose Konzerte mit Bachs Weihnachtsoratorium, begleitet vom örtlichen Alte-Musik-Ensemble "Musica Angelica" unter Leitung von deren Chefdirigenten, dem Wiener Martin Haselböck.

Beide Konzerte, das in der Herbert-Zipper-Hall in der Innenstadt und das an der "Broad Stage" von Santa Monica, hatten nicht zuletzt durch die Unterstützung des österreichischen Botschafters viele Interessierte angelockt. Die Begeisterung war groß über die seltene Gelegenheit, das Weihnachtsoratorium in komplett originaler Besetzung, inklusive Knabensolisten, erleben zu können. Wie neu und anders und natürlich-richtig das plötzlich klingt.

Glühwein zur Belohnung

Freilich hätte man beim nächsten Tourneestützpunkt, in Washington, vom Tölzer Knabenchor ebenfalls gerne Bachs Weihnachtsoratorium gehört oder dessen Motetten, sagt Thomas Meindl von der Deutschen Botschaft. Aber es habe bereits die Deutsche Schule dieses Programm einstudiert. Das ist so, als bitte man die Münchner Philharmoniker, Strauss-Walzer zu spielen, weil das Schulorchester bereits mit Bruckner reüssiere.

Andererseits: Wenn niemand zum Konzert kommt, hilft das beste Programm nichts, und für einen Auftritt in einem großen Konzertsaal von Washington wäre umfangreichere Bewerbung nötig gewesen. Dafür wiederum hätte man Pressematerial vom Chor benötigt, das nicht geliefert wurde, sagt Meindl.

Deshalb habe man sich für das Programm alpenländischer Weihnachtslieder entschieden. Was dann in der United Church im Zentrum von Washington auch auf große Begeisterung der großteils deutschstämmigen Hörerschaft stieß. Nach den Zugaben gab es Glühwein von der Botschaft und 60-Jahre-Luftbrücke-T-Shirts für die Knaben und Germany-Basecaps.

Das Dilemma ist nicht neu: Gerhard Schmidt-Gaden bringt seinen Tölzer Knabenchor in Hochform, trainiert über Wochen hervorragende Solisten, bemüht sich um authentischen Klang und ein dazu passendes Orchester, und am Ende sitzen wenige hundert Zuhörer im Saal, die zufällig von der Aufführung erfahren haben.

Eine Reise ins Ungewisse

Wenn man erlebt hat, wie Schmidt-Gaden seine Solisten für die zweite Aufführung wieder in Hochform brachte, wie er mit Engelsgeduld kleine und große Sekunden fixieren ließ, die Kinder nebenbei ausrechnen mussten, wie groß das syntonische Komma an dieser Stelle sei - das wissen die meisten Profimusiker nicht -, dann konnte man nur staunen über ein auch im Erwachsenenvergleich schier unglaublich hohes Kompetenzniveau.

Nebenbei und quasi halbbewusst lernten die Kinder, dass das modern gestimmte Klavier nicht immer Recht hat, dass es bei Bach falsch klingt und die eigene Intonation unabhängig davon gefunden werden muss: dass letztlich die Maschine dem Menschen untergeordnet sei. Psychologisch genau werden Lob und Tadel dosiert, immer wieder trainiert Schmidt-Gaden die Registerübergänge, so lange, bis es keinerlei Unsicherheiten mehr gibt, und am Ende tatsächlich vier wie neugeborene Solisten dastehen.

Für viele Zuhörer spielt dies nicht die Hauptrolle, aber das heißt auch, dass die am schwierigsten erarbeiteten Leistungen, die sonst kein Chor bringt, nur selten gewürdigt werden. Mit dem Kammerchor, der aus lauter solchen Solisten besteht, verhält es sich ähnlich.

Nachfolger steht bereit

Wo manche Chöre nach einem Jahr Vorbereitung mit zwei Mannschaftsbussen anreisen, um dann mit verhauchten Stimmen die Choräle im Weihnachtsoratorium zu bestreiten, da stehen im anderen Fall nicht einmal 30 Tölzer und bedienen die ganze dynamische Bandbreite, vom Pianissimo bis zum Forte, alles klar artikuliert und sinnvoll strukturiert.

Schmidt-Gaden muss da nicht, wie es seit ein paar Jahren in Mode gekommen ist, die Choräle mit inhaltlichen und sonstigen "Interpretationen" verfremden, um Wirkung zu erzeugen. Bach hat das schon wirkungsvoll komponiert, man muss nicht ihn, sondern nur die ausführenden Stimmen verbessern.

Aber, wo wenig Werbung ist, ist auch kaum Ruhm und noch weniger: dringend benötigte Sponsoren. Fünf Konzerte mit drei verschiedenen Programmen innerhalb einer Woche sind zwar eine reife Leistung, aber Konzertmitschnitte gab es auch diesmal nicht - die besten Aufführungen verpufften im Lauf der Jahre, und wie es aussieht, geht in diesen Wochen eine ganze Ära zu Ende.

Sie begann mit der Gründung des Chores 1956, erreichte in den siebziger Jahren mit einigen spektakulären Aufnahmen - auch mit Leonhard und Harnoncourt - erste internationale Höhepunkte inklusive einer Grammy-Nominierung, und das Niveau hielt - mit Schwankungen - bis heute.

Doch nun steht die Wende an: In diesem Jahr soll der Tölzer Knabenchor eine Stiftung werden Ralf Ludewig (siehe rechte Spalte) neuer Chorchef. Einfach wird das nicht, denn die Qualität des Chores hing an Schmidt-Gadens außerordentlicher Kompetenz in Sachen Stimmbildung, kombiniert mit pädagogischem Geschick. Letzteres zumindest scheint auch seinem Nachfolger gegeben.

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