Theres: Suche nach Mädchen-Mörder:Es geschah vor 39 Jahren

Sie ging mit Freundinnen zum Baggersee - und kam nicht wieder zurück: Der Fall des ermordeten Mädchens Martina war in Theres schon fast vergessen. Nun soll eine DNS-Spur den Täter entlarven.

Roman Deininger

Sie ist 53 Jahre alt heute, sie war 14 damals. Sie sagt, sie könne sich an fast nichts mehr erinnern. Und dass sie das ein wenig erschrecke, weil man sich doch eigentlich erinnern müsse an diesen Tag, an dem die Sonne hoch über dem Glockenturm von St. Kilian stand, bevor sie für lange Zeit vom Himmel über Obertheres verschwand.

DNA-Reihenuntersuchung soll Mord an elfjährigem Mädchen klären

Baggersee bei Obertheres: An diesem See wurde vor 39 Jahren ein elfjähriges Mädchen umgebracht. Mit einer DNA- Reihenuntersuchung will die Polizei den Mord nun aufklären.

(Foto: dpa)

Es war der 17. Mai 1971, der erste heiße Tag des Frühjahrs, der erste Tag der Badesaison, auf den hatten sie sich gefreut. Nach dem Mittagessen, so viel weiß sie noch, sind sie gemeinsam losgelaufen, dem Hörhauser See und dem Sommer entgegen. Über die Bundesstraße, über die Bahngleise, über die Mainbrücke. Vier Mädchen gingen zum Schwimmen an jenem Tag im Mai, die übliche Clique: sie, Angelika, Lia und Martina. Drei kamen zurück.

Sie wisse sonst nichts mehr, sagt sie, oder doch, eines noch: Wie sie alle vier am Ufer des Sees standen, die Handtücher einpackten und die Sonnencreme, weil sie ja daheim sein mussten um halb fünf. Und wie Martina sagte: "Ich geh nicht mit, ich komm gleich nach." Sie waren immer zusammen heimgegangen, doch an diesem Tag gingen sie zu dritt. Sie sahen Martina in der Zeitung wieder, ein totes Mädchen von elf Jahren, aufgebahrt ganz in Weiß. Sie wissen bis heute nicht, ob sie eine Obduktionsschürze trug auf dem Bild oder das Kleid, das sie für den Himmelfahrtstag bekommen hatte. Die Frau, die dabei war damals, steht auf, zum Abschied sagt sie: "Ich würde mich gerne an mehr erinnern."

Winfried Stark nimmt einen blauen Band aus dem Regal, "Ortschronik 1970/71" prangt darauf, in goldenen Buchstaben. Behutsam faltet er die Zeitungsseiten von damals auf, da ist dieses Foto in Weiß. "Sexualmord am Badesee" heißt die Schlagzeile, in dem Artikel wird Martinas Vater zitiert: "Sie sah doch noch aus wie ein richtiges Kind." Stark leitet die Geschäftsstelle der Verwaltungsgemeinschaft Theres, er war ein junger Feuerwehrmann, als das ganze Dorf damals nach Martina suchte, er stand auf einem Feuerwehrauto und schwenkte den Scheinwerfer. Man müsse vorsichtig sein mit solchen Worten, sagt er, aber andere träfen die Sache eben nicht: "Nichts war mehr, wie es vorher war."

Vergiftete Stimmung an den Stammtischen

Stark hat den blauen Band auf einen Plastiktisch gelegt, an diesem Tisch, sagt er, seien vor 39 Jahren die Polizisten gesessen. 15 Beamte waren 1971 in der Sonderkommission, drei Wochen nahmen sie hier im Alten Rathaus Quartier. Draußen vor der Dorflinde parkten ihre grünen VW-Käfer. 5000 Mark Belohnung waren für Hinweise auf den Täter ausgesetzt. "Wir haben alle den Wunsch", sagte der Pfarrer bei der Trauerfeier in Sankt Kilian, "dass der Verbrecher bald gefasst und seiner Bestrafung zugeführt wird." 1100 Menschen lebten 1971 in Theres am Rand der Haßberge, zwanzig Kilometer vor Schweinfurt. Mehr als 1000 Menschen trugen Martina zu Grabe.

Die Bewohner von Obertheres ließen ihre Kinder nicht mehr an den See damals, einen ganzen Sommer lang, manche zwei. Der Täter wurde nicht gefunden, und natürlich spekulierten sie im Dorf, der Verdacht vergiftete manchen Stammtisch. Irgendwie hofften sie, dass das Böse von anderswo nach Obertheres gekommen war, dass es nicht in ihrer Mitte wohnte, nicht beim Bäcker Semmeln kaufte.

"Für mich war es nie vorbei"

Irgendwann jedoch war das Ufer des Sees wieder voller Leute, die Sonne war zurück über dem Glockenturm. Martinas Grab wurde eingeebnet nach drei Jahrzehnten. Es sah so aus, als würde Obertheres seinen Wunsch nach Klarheit, nach Gerechtigkeit vergessen. Jetzt könnte er dennoch in Erfüllung gehen, ein halbes Menschenalter nach der Tat.

Sie hatten Martinas Leichnam am Morgen danach entdeckt, in einer von Sträuchern verdeckten Mulde 400 Meter weg vom See, heute markiert ein Baumstumpf die Stelle. Die Ermittler sicherten damals ein unbestimmtes Material an der Kleidung des wohl missbrauchten, erdrosselten Mädchens. Nach vier Jahrzehnten waren sie in der Lage, daraus einen genetischen Fingerabdruck zu gewinnen. Diesen wollen sie nun abgleichen mit der DNS von mehr als 100 Männern, die 1971 mindestens 14 Jahre alt waren, die Martina kannten oder jenen Nachmittag am See verbrachten.

Wie vor 39 Jahren bezogen die Polizisten das Alte Rathaus mit den roten Geranien vor den gelben Fenstern. Im Sitzungssaal nahmen sie mit Wattestäbchen die Speichelproben älterer Herren, einige hatten sich mit ihren Gehstöcken den Weg durch das Dutzend Journalisten vor dem Eingang gebahnt. Mancher Geladene wendete den Wagen und ließ sich einen neuen Termin geben. Am Ende seien alle da gewesen, teilt die Polizei mit, bis auf einen Mann, der im Krankenhaus liegt.

Ein paar wenige in Obertheres finden, die ganze Aktion sei doch nur Show. Aber ein Polizeisprecher sagt: "Wenn wir keine Hoffnung hätten, würden wir den Aufwand nicht betreiben." Über der Tür des Alten Rathauses ist eine Inschrift eingemeißelt, sie lautet: "Wer das Böse nicht bestraft, ist dem Frommen schadenhaft."

"Da liegt sie"

Hundert Meter die Straße hinab vom Alten Rathaus, gleich am Friedhof, ist Ruhetag im Café Schneider mit seinen Ziervorhängen im Fenster. Richard Schmitt, der Wirt, sitzt im Halbdunkel an einem massiven Holztisch mit Deckchen und Zuckerstreuer. Er umklammert seinen Schlüsselbund und sagt: "Für mich war es nie vorbei." Schmitt ist 83 Jahre alt, er ist Martinas Onkel, im Haus seiner Eltern hat das Mädchen gelebt, ihre eigenen Eltern hatten sich gerade getrennt. In Obertheres sollte sie eine unbeschwerte Kindheit haben.

Bis zwei Uhr früh suchten die Männer des Ortes nach ihr in der Nacht zum 18. Mai. Schmitt und Martinas Vater harrten aus bis zum Morgen, sie schauten von der Mainbrücke aus hinab auf den See, der glänzte im Mondlicht. Sie wussten nicht, worauf sie warteten, aber sie warteten. Vergeblich. Am Vormittag rief ein Feuerwehrmann den Satz, der Richard Schmitt immer noch in den Ohren schmerzt: "Da liegt sie."

Die Polizei hat inzwischen nach Hinweisen weitere Männer zum Test geladen, überall in Deutschland, einen in Australien. Im Spätherbst sollen die Ergebnisse feststehen. Richard Schmitt sagt: "Wir warten wieder", so wie vor 39 Jahren auf der Brücke über den Main. Diesmal wissen sie wenigstens, worauf.

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