Sylvensteinspeicher:Erinnerungen an das Dorf am Seegrund

Fall, das versunkene Dorf

Die Brücke gab es schon, bevor die letzten Häuser verschwanden.

(Foto: Privat)

Das alte Dorf Fall ist nach 56 Jahren wieder aus dem Sylvensteinspeicher aufgetaucht. Ein ehemaliger Bewohner berichtet.

Von Klaus Schieder, Lenggries

Der Grund des Sylvensteinsees ähnelt einer archäologischen Ausgrabungsstätte. Wo das Wasser abgelaufen ist, ragen Mauersteine wie abgebrochene Zähne aus dem halb sandigen, halb kiesbedeckten Boden. Sie zeigen die Grundrisse von ehemaligen Häusern. Es nähme nicht wunder, wären Archäologen dort mit Schaufeln und Pinseln zugange, um die Relikte einer längst vergangenen Zeit freizulegen, einer römischen Siedlung vielleicht.

Aber die Reste sind viel jüngeren Datums. Sie gehören zu dem alten Dorf Fall, das vor gerade einmal 56 Jahren im Sylvensteinsee unterging. Manchmal, so geht eine Legende, sei noch der Turm der Kapelle zu sehen, wenn das Wasser sinke. Aber auch von dem kleinen Gotteshaus blieben lediglich ein paar Steine übrig.

Warum die Grundrisse nun wieder zu sehen sind

Das versunkene Dorf tauchte jetzt wieder auf, als das Wasserwirtschaftsamt Weilheim ein neues Stahltor für den Grundablass-Stollen einsetzte und dafür das Wasser abgelassen hatte. Anton Böhm hat die letzten Tage des kleinen Orts nahe der österreichischen Grenze miterlebt, das in den Fünfzigerjahren dem Bau des Damms und des großen Wasserspeichers zum Opfer fiel.

Die Stimmung unter den Bewohnern schildert er als eher bedrückt. "Die Leute waren an und für sich gegen den Speicher", erzählt der inzwischen 92-Jährige. Die meisten von ihnen lebten in einfachen Holzhäusern und Hütten. Nur wenige Gebäude wie das Forstamt, das Zollamt, die Schule, das Gasthaus Fallerhof, das alte Beamtenhaus und die Kapelle waren aus Stein gebaut.

Die Lebensbedingungen der Forstbediensteten und Zollbeamten, die das Gros der Dorfbevölkerung bildeten, waren sogar für damalige Verhältnisse rustikal. Manche Häuser hätten nicht einmal eine Toilette gehabt, erzählt Stephan Bammer, Heimatforscher, Buchautor und Gemeinderat in Lenggries. Es gab noch das alte Plumpsklo im Freien.

Fall Anton Böhm

Pfarrhaus, Kapelle und Jagerhaus von Fall. Anton Böhm hat das Bild etwa 1958 aufgenommen.

(Foto: Privat)

Wie Böhm im alten Fall lebte

Ganz so schlimm war es für Böhm nicht. Mit 32 Jahren kam er nach Fall und trat seinen neuen Posten als stellvertretender Leiter des Forstamts an, das eines der größten in Bayern war. Mit seiner Familie wohnte er in einem Haus, das Toilette und Bad hatte, sonst aber ebenfalls "ziemlich primitiv" ausgestattet war. Das Unliebsame an seiner Wohnung: Der Nachbar musste jedes Mal bei den Böhms hereinschneien, um zu seiner Wohnung nebenan zu gelangen. "Es gab nur diesen Zugang", erzählt Böhm.

Als er einzog, spannte sich schon die mächtige Sylvensteinbrücke über das abgeschiedene Tal. Der Anfang vom Ende reichte ins Jahr 1948 zurück. Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg hatte die amerikanische Militärregierung den Bau neuer Kraftwerke verboten, weshalb vorhandene Anlagen wie das Walchenseekraftwerk mehr Energie liefern sollten. Der Rissbach wurde dazu in den Walchensee abgeleitet, was jedoch zur Folge hatte, dass fortan die Isar von Vorderriss an nur noch wenig Wasser führte. Dieses Problem sollte der neue Sylvensteindamm lösen, den der bayerische Landtag am 15. Januar 1954 beschloss. Vier Monate später begannen die ersten Arbeiten.

Die Leute in Fall sahen das Großprojekt mit gemischten Gefühlen. "Sie waren dagegen, zum Teil aber auch dafür", berichtet Böhm. Die einen hingen am Altgewohnten und fürchteten, dass sie nach dem Umzug höhere Mieten zahlen müssen. Die anderen versprachen sich ein besseres Leben durch die neuen Häuser, die in Neu-Fall am Ostufer für sie gebaut wurden. Diese Anwesen entpuppten sich dann allerdings nicht gerade als Vorzeigeobjekte solider Baukunst. Sie wurden hurtig hingestellt. "Sie waren teilweise nicht unterkellert, es gab nur einen Stromkreislauf im Haus", sagt Böhm. Auf eine Zentralheizung verzichtete man.

Wie das Dorf verschwand

Das 61 Millionen Mark teure Großprojekt wurde nach einem strikten Bauzeitenplan umgesetzt. Nacheinander entstanden Grundablass-Stollen, Triebwerksstollen, Dichtungsschürze, Kavernenkraftwerk, Sylvensteinbrücke. Parallel dazu wurde das alte Fall geräumt: erst das Unterdorf mit den Zollhäusern, dann das Mitteldorf, am Ende das Oberdorf. Ins neue Fall durften bloß Forstangestellte und Zollbeamte umziehen, die noch im Dienst standen.

Der Waldarbeiter Todeschini, von dem nur der Nachname bekannt ist, hatte Pech. Er war schon pensioniert. Ihm wurde ein Haus in Lenggries in Aussicht gestellt, das aber erst gebaut werden musste. Weil er zwischenzeitlich nicht in einer Baracke leben mochte, blieb er stur im alten Beamtenhaus und ließ sich bis zuletzt nicht vertreiben.

Fall Anton Böhm

Das alte Fall aus der Sicht des Falkenberges im Jahr 1956.

(Foto: Privat)

"Der gute Mann war wohl ein bisschen störrisch", sagt Bammer. Einen Monat, bevor das ganze Tal geflutet wurde, musste Todeschini doch weichen. Am 19. April 1957 setzte Starkregen ein. Das Wasser stieg bis zur Haustür des Beamtenhauses und drang ins Erdgeschoss ein, aber der Waldarbeiter harrte noch immer im Obergeschoss aus. Dort oben musste man ihn zwangsweise herausholen. "Er wollte bleiben, aber es ist ihm nichts anders übrig geblieben", sagt Böhm.

Wie die letzten Häuser verschwanden

Danach sprengten Bundeswehr-Pioniere aus Mittenwald das letzte Haus, das vom alten Fall noch stand. Der Ort, der Ludwig Ganghofer als Schauplatz für seinen Heimatroman "Der Jäger von Fall" diente, war damit Geschichte.

Vom "versunkenen Dorf" mag Bammer nicht gerne sprechen. Dieses Synonym zählt für ihn zur Legendenbildung wie der Mythos von der Kapelle. Der Grund: Der Ort wurde ja nicht wie bei einer Naturkatastrophe mit noch stehenden Häusern plötzlich überflutet, sondern peu á peu abgerissen. "Wir alle sind stets versucht, klangvolle, farbenfrohe Geschichten aus den Fakten zu entwickeln, und das führt dazu, dass Fall ,in den Fluten versinkt'", meint er.

Für das Buch, das er nach seiner Pensionierung über das alte Dorf schrieb, hat Böhm dagegen eben diesen Titel gewählt: "Fall - das versunkene Dorf". Damals in den Fünfzigern, sagt er, "habe ich jedes Haus fotografiert".In dem schmalen Band ersteht der Ort, von dem nur ein paar Mauerreste übrig sind, in Schwarz-Weiß-Fotos wieder auf. Das Gamshäusl, das Jägerhäusl, die Holzmeisterhütte, die Schmiede. Und der alte Kramerladen der Hedwig Stettin.

Eine Aufnahme zeigt die alte Frau, wie sie ein wenig verloren vor dem großen Stadl sitzt, in dem sich ihr Tante-Emma-Geschäft befand. Sie musste es für immer schließen. Denn einen Ersatz im neuen Dorf Fall hatte man ihr nicht angeboten. Böhm sagt: "Ich habe alles dokumentarisch festgehalten, um die Erinnerung an das alte Fall wachzuhalten."

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