Sudetendeutsche:Die Wirtschaftswunderstadt

Vor 70 Jahren wurde Neugablonz gegründet. Bis heute profitiert das Allgäu vom Wissen und Fleiß der Vertriebenen

Von Stefan Mayr, Kaufbeuren

Hinter der dunkelbraunen Tür mit der Aufschrift "Musterzimmer" ist die Zeit scheinbar vor 60 Jahren stehen geblieben. Der geschwungene Holzschrank mit Glasvitrine, die vergilbten Bodenfließen aus Kunststoff, die Tischdecke und die im Hintergrund klappernde Uralt-Schreibmaschine, alles versprüht den Charme der Fünfzigerjahre. Am Tisch sitzt Ernst Tomesch, der Geschäftsführer. Er ist 95 Jahre alt, ist auf zwei Hörgeräte und einen Stock angewiesen. Aber seine Augen sind hellwach. Hoch konzentriert und pointiert erzählt er die außergewöhnliche Geschichte seines Lebens, seines Unternehmens und seiner neuen Heimat, dem Kaufbeurer Stadtteil Neugablonz. "Wir haben schon vor dem Krieg Rosenkränze nach Altötting geliefert", sagt der gelernte Exportkaufmann Tomesch. "Wir hatten 20 Mitarbeiter zu Hause."

Zu Hause? Tomesch lebt seit 70 Jahren in Neugablonz, aber wenn er "zu Hause" sagt, dann meint er Gablonz an der Neiße, das jetzt Jablonec nad Nisou heißt. Ernst Tomesch ist einer von Tausenden Sudetendeutschen, die nach dem Krieg aus dem Großraum Gablonz vertrieben wurden, danach im Allgäu wieder bei Null anfingen und in knapp 600 Kilometer Entfernung die weltberühmte Gablonzer Glas- und Schmuck-Industrie neu aus dem Boden stampften. Es ist eine Erfolgsgeschichte, die in ganz Deutschland einmalig ist: Insgesamt 10 000 Menschen aus Böhmen im Norden der heutigen Tschechischen Republik ließen sich damals auf einem trostlosen Trümmerfeld nördlich von Kaufbeuren nieder und verwandelten dieses in einen brummenden Industriestandort.

Sudetendeutsche: Die Glas- und Schmuck-Industrie in Gablonz war weltberühmt - hier ein Foto des Gablonzer Stadtkerns von 1937.

Die Glas- und Schmuck-Industrie in Gablonz war weltberühmt - hier ein Foto des Gablonzer Stadtkerns von 1937.

(Foto: Stadtarchiv Kaufbeuren)

Dabei hatten sie etliche Widrigkeiten und Widerstände zu überwinden: Die Skepsis der Einheimischen war groß und sowohl der damalige bayerische Wirtschaftsminister Ludwig Erhard als auch die US-amerikanische Militärverwaltung waren strikt gegen das Projekt Neu-Gablonz. Sie befürchteten, dass ein Ghetto der Vertriebenen entstehen könnte. Erhard wollte die Fachkräfte, deren Produkte vor dem Krieg in alle Welt exportiert wurden, lieber in den oberfränkischen Grenzgebieten verteilen. Im Mai 1946 erließ die Staatsregierung sogar ein Zuzugsverbot für Kaufbeuren. Alle Ankömmlinge aus Gablonz sollten zwischen Zwiesel und Bayreuth angesiedelt werden. Doch den Allgäuer Initiatoren des Projekts Neu- Gablonz war das egal. Die Kaufbeurer Flüchtlingsverwaltung registrierte alle ankommenden Gablonzer kurzerhand unter falschen Berufsbezeichnungen.

Der zivile Ungehorsam zahlte sich aus: 1952 erhielt das Trümmergelände offiziell den Namen Neugablonz, und ein Jahr später kam sogar Ludwig Erhard als Bundeswirtschaftsminister zu Besuch und überzeugte sich: Hier wurde vieles richtig gemacht. "Eigentlich war das Projekt völlig utopisch", sagt der Historiker Manfred Heerdegen vom örtlichen Industrie- und Schmuckmuseumsverein. "Aber es ist gelungen."

Die neue Heimat von Ernst Tomesch und all den anderen war trostlos: Auf dem Areal einer ehemaligen Dynamitfabrik hausten sie anfangs in den Baracken der Zwangsarbeiter. Zudem hatten die US-Amerikaner die meisten Überreste der Nazi-Bauten in die Luft gesprengt. Doch die Vertriebenen krempelten die Arme hoch und fertigten wieder Schmuckstücke. Sie bemalten Wehrmachtsuniform-Knöpfe, und aus Obstkernen und Dosenblech zauberten sie Broschen. Irgendwann kamen sie auch wieder zu Glas, und die Deutschen bekamen wieder das Geld, um sich Schmuck zu kaufen. Da es zu echtem Gold meist nicht reichte, war der Modeschmuck aus Neugablonz gerade recht. Das Ostallgäuer Wirtschaftswunder begann. Neugablonz entfaltete Sogwirkung auf viele andere Vertriebene, die sich zunächst woanders niedergelassen hatten. 1960 gab es hier 844 Betriebe, 461 davon aus der Schmuckbranche. Das machte einen Betrieb auf zwölf Einwohner, einen dichter industrialisierten Landstrich gab es nirgends in der ganzen Republik. Und mit 10 000 Sudetendeutschen galt Neugablonz als größte zusammenhängende Vertriebenen-Siedlung Deutschlands.

Sudetendeutsche: Tausende Sudetendeutsche wurden nach dem Zweiten Weltkrieg aus dem böhmischen Gablonz vertrieben und gründeten Neugablonz. SZ-Karte

Tausende Sudetendeutsche wurden nach dem Zweiten Weltkrieg aus dem böhmischen Gablonz vertrieben und gründeten Neugablonz. SZ-Karte

Die Stadt Kaufbeuren profitierte von dem Erfolg: Von 1945 bis 1961 verdreifachte sich die Einwohnerzahl von 12 400 auf 37 000. "Die Ansiedlung der Sudetendeutschen war ein Glücksfall für Kaufbeuren", sagt der aktuelle Oberbürgermeister Stefan Bosse (CSU). Es ist ein starkes Stück Landes- und Industriegeschichte, das bis heute fortgeschrieben wird. Derzeit zählt der Bundesverband Gablonzer Industrie in Neugablonz etwa 100 Unternehmen mit 2000 Mitarbeitern. Auch der berühmte österreichische Schmuck-Hersteller Swarovski hat seine Wurzeln in der Region Jablonec, und seine Deutschland-Dependance sitzt nicht etwa in Berlin oder München, sondern in Neugablonz.

Doch bis das Wirtschaftswunder für die Flüchtlinge Realität wurde, mussten sie schwere Zeiten überstehen. Ernst Tomeschs Vater Alfred musste 1946 innerhalb von zwei Stunden seine Sachen packen, dann wurde er in einen Zug Richtung Deutschland gesteckt. Erlaubt waren nur 50 Kilo Gepäck. Geräte, Werkzeuge oder Fachliteratur mitzunehmen war bei Todesstrafe verboten. Im sehenswerten Isergebirgsmuseum von Neugablonz hängt ein Sakko, in dessen Fütterung ein Flüchtling ein Glasrezept eingenäht hatte. Zwischen 1946 und 1950 kamen in Bayern etwa 1,2 Millionen Sudetendeutsche an. Heute spricht man vom "vierten Stamm" - neben Altbaiern, Franken und Schwaben. Ernst Tomesch selbst flüchtete als 25-Jähriger aus französischer Kriegsgefangenschaft ins Allgäu. Unter den Sudetendeutschen hatte sich herumgesprochen: Bei Kaufbeuren soll das gute alte Gablonz neu aufgebaut werden. Viele Vertriebene wurden anfangs in den Häusern und Wohnungen der Einheimischen einquartiert, das sorgte bei den Kaufbeurern nicht für Begeisterung. "Damals hat es ganz vernehmlich geknirscht", berichtet Historiker Heerdegen. "Bis heute brüsten sich Kaufbeurer, dass sie die Straße nach Neugablonz nie betreten haben."

Neugablonz

Ernst Tomesch, 95, stampfte gemeinsam mit anderen aus Gablonz vertriebenen Sudetendeutschen die berühmte Schmuckindustrie im Allgäu neu aus dem Boden.

(Foto: Stefan Puchner)

Heerdegen erzählt auch von einigen sprachlichen Verwirrungen, die bei den Kaufbeurern Naserümpfen auslösten. Als Betriebe einst Personal für Lötarbeiten und für die Endmontage der Schmuckstücke einstellten, suchten sie in Stellenanzeigen nach "Schwarzarbeitern" und "Mädchen zum Fertigmachen".

Wer sich in Neugablonz umschaut, stellt schnell fest, dass das ein ganz besonderes Stück Bayern ist. Eine Altstadt gibt es nicht, kein Gebäude hier ist älter als 70 Jahre. Und wo sonst heißt ein Spielplatz "Freizeitgelände Trümmerfeld"? Der Fußballverein heißt nicht etwa FC oder TSV, sondern BSK. Der "Ballsportklub" ist eine Reminiszenz an den Klub in Jablonec. Straßen, Kirche und Gasthaus wurden ebenfalls benannt wie in der alten Heimat. Beim Bäcker gibt es bis heute Mohnbuchteln und Butterwischl, beim Metzger Räucherwurst und Kümmelpolnische.

In Ernst Tomeschs Betrieb ist zwar das alte Mobiliar geblieben, doch die Produkte sind brandaktuell: Die 21 Mitarbeiter stellen heute fast ausschließlich Spielwürfel her, 40 000 Stück pro Tag. Nur noch ein Zehntel der Produktion entfällt auf Schmuckwaren. Ähnlich machen es viele andere Betriebe, die ihre Wurzeln in Gablonz haben: Sie nutzen ihre Kompetenz im Formen, Färben und Behandeln von Oberflächen und stellen nun Spielwaren, Werbeartikel, Sanitär-Armaturen oder auch Premium-Innenausstattungen für Audi oder Mercedes her.

Neugablonz

Nein, Neugablonz kann es nicht ganz mit Füssen oder Kempten aufnehmen. Aber auf dem einstigen Trümmerfeld lässt es sich heute gut leben.

(Foto: Stefan Puchner)

Seit 2009 gibt es eine Städtepartnerschaft zwischen Kaufbeuren und Jablonec. Die Annäherung und Versöhnung hat lange gedauert, inzwischen funktioniert sie. Wenn Neugablonz am Sonntag sein 70-jähriges Bestehen feiert, spielen die Musikkapellen von Neugablonz und Jablonec gemeinsam auf. Beim Festakt wird Jablonecs Bürgermeister Petr Beitl ein Grußwort sprechen.

"Ohne den Zuzug der Sudetendeutschen wäre Kaufbeuren heute wohl keine kreisfreie Stadt mehr", betont Historiker Manfred Heerdegen. Und Ernst Tomesch sagt: "Ich fühle mich halb als Gablonzer und halb als Bayer."

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: