Stunde der Wintervögel:Wo sind all die Vögel hin?

Spatz, Grünfink und Amsel werden seltener. Die jährliche Zählung soll Aufschluss bringen

Von Christian Sebald

An einen so verrückten Winter wie diesen kann sich Richard Sims nicht erinnern. "Spätestens um Weihnachten herum ist mein Garten immer voller Vögel", erzählt der 70-jährige Brite, den es aus beruflichen Gründen schon vor Jahren in den Spessart-Ort Lohr verschlagen hat. Egal ob Amseln oder Spatzen, Eichelhäher oder Kleiber - auf der Jagd nach Leckerbissen scharen sich alle um die Futterhäuschen, die Sims dort aufgestellt hat. "Aber dieses Jahr ist überhaupt nichts los", klagt der Hobby-Ornithologe. "Es sind kaum Amseln da, auch die Spatzen fehlen, und Eichelhäher und Kleiber lassen sich ebenfalls keine blicken." So wie Sims geht es derzeit vielen Vogelfreunden. "Wir bekommen Anrufe aus allen Ecken Bayerns", sagt Martina Gehret vom Vogelschutzbund LBV. "Der Tenor ist immer der gleiche: Was ist mit den Vögeln los, klagen die Leute, in diesem Winter sehen wir so wenige Vögel wie nie zuvor."

So alarmiert sind viele Vogelfreunde, dass die Hauptamtlichen beim LBV in diesem Jahr ganz besonders auf die "Stunde der Wintervögel" setzen. Die alljährliche Vogelzählung zählt zu den größten Citizen-Science-Aktionen in Deutschland und findet 2017 von 6. bis 8. Januar statt. Dabei sind alle Vogelfreunde dazu aufgerufen, eine Stunde lang alle Vögel zu zählen, die sie bei sich im Garten, auf dem Balkon oder auch in einem öffentlichen Park beobachten. Die Arten und die Anzahl der Sichtungen sollen auf einer Liste vermerkt werden, diese soll rasch an den LBV gemailt, gefaxt oder per Post geschickt werden. Zwar liefert die "Stunde der Wintervögel" keine wissenschaftlich harten Daten - dazu sind die Zählungen zu willkürlich und fehlerhaft. "Aber aus den Ergebnissen lassen sich die großen Trends ablesen ", sagt Martina Gehret. "Und das macht die Zählaktion so wertvoll für uns."

Dass in Bayern immer weniger Vögel leben, ist an und für sich nichts Neues. Der frühere Leiter der Vogelschutzwarte in Garmisch-Partenkirchen, Einhard Bezzel, hat einmal für das Werdenfelser Land einen Schwund von wenigstens einem Drittel in den vergangenen 30 Jahren ermittelt. Der Hauptgrund für die Verluste ist die Industrialisierung der Landwirtschaft mit ihrem massiven Einsatz an Pflanzenschutzmitteln und Kunstdünger. Das Erschreckende an Bezzels Befund ist aber nicht nur die schiere Menge und der kurze Zeitraum, in dem die Vögel weniger geworden sind. Sondern, dass es sich durchwegs um Allerweltsarten handelt - den Feldspatz also und den Hausspatz, den Grünfink und das Braunkehlchen und all die anderen Arten, die hierzulande in großer Zahl anzutreffen waren und es zum Teil nach wie vor sind. Bezzel hält seine Ergebnisse ausdrücklich für übertragbar auf ganz Bayern.

Bei den von Bezzel festgestellten Verlusten handelt es sich freilich um einen schleichenden Prozess - der nur mit wissenschaftlichen Untersuchungen gesichert werden kann. "Das, was die Anrufer bei uns beklagen, ist etwas anderes", sagt Gehret, "das sind subjektive Wahrnehmungen, die sie im Vergleich zu ein, zwei oder drei Vorjahren machen." Solche subjektiven Wahrnehmungen haben mehrere Seiten. So können sie einer erhöhten Aufmerksamkeit oder gar Alarmstimmung geschuldet sein - etwa in Folge der Vogelgrippe, die derzeit in Bayern umgeht. "Viele Leute meinen ja, dass die Tierseuche auch unter den Singvögeln grassiert", sagt Gehret, "etliche haben dann prompt das Gefühl, dass sie weniger Singvögel sehen." In punkto Vogelgrippe gibt Gehret aber Entwarnung. "Sie betrifft nur Wasser- und Hühnervögel und vereinzelt Aasfresser", sagt die LBV-Frau. "Unsere heimischen Singvögel stecken sich nicht mit Vogelgrippe an."

Auf der anderen Seite sind binnen Jahresfrist schwankende Vogelbestände für Fachleute nichts Ungewöhnliches. So war das sehr warme und trockene Jahr 2015 ein außergewöhnlich gutes Vogeljahr. "Viele Arten haben da gleich mehrere Bruten großziehen können", sagt Gehret. "Deshalb waren auch im vergangenen Winter sehr viele Vögel in den Gärten und Parks unterwegs." Das Frühjahr 2016 hingegen war eher nass und kalt. "Bei allen möglichen Vogelarten ist deshalb gleich die erste Brut ausgefallen", sagt Gehret - was natürlich sofort den Gesamtbestand fallen lässt. Für gewöhnlich überstehen die jeweiligen Vogelarten solche "saisonalen" Bestandsschwankungen ohne Mühe.

Hinzu kommt, dass der gegenwärtige Winter so mild ist, dass gerade Waldvogel-Arten wie der Eichelhäher, der Kleiber oder auch der Buntspecht draußen in den Forsten noch ausreichend Nahrung finden. Sie müssen deshalb nicht zu den reich gefüllten Futterstellen in den Gärten, auf Balkonen und in Parks fliegen. Einen ähnlichen Effekt gibt es bei den Amseln. In härteren Wintern ziehen oft Scharen aus Norddeutschland nach Bayern. Wegen der milden Temperaturen in diesem Jahr fällt die sogenannte Süddrift der Amseln bisher aus. Wie auch immer, nicht nur beim LBV sind sie gespannt auf die "Stunde der Wintervögel". Auch der Lohrer Vogelkundler Sims erwartet die Zählung sehr. "Denn", so sagt er, "irgendwo müssen sie doch stecken, die Vögel." Zumindest aber wollen sie beim LBV herausfinden, welches Ausmaß der Schwund hat.

Informationen auch unter www.stunde-der-wintervoegel.de oder www.lbv.de

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